Alle Artikel von PORTUg@NDI_20

Bacalhau als portugiesische Identität und kulturelles Erbe

Foto von Bacalhau im Lissabonner Fischladen

Weihnachten ohne Bacalhau ist in Portugal undenkbar    von Ariane Reipke

> Soziale und kulturelle Identitäten drücken sich in der Wahl der Lebensmittel aus. Essen wird als kulturelles Konstrukt verstanden, und zwar in dem Sinne, dass wir als Nahrung das wählen, was biologisch verdaulich ist, aber auch das, was kulturell erlaubt und akzeptabel ist. Neurowissenschaften sprechen hier von Eindrücken und Vorlieben auf geschmacklicher Ebene, die dann im Gehirn auf Grund von Erfahrungen in der Kindheit gespeichert werden. Selbst die Vielzahl kulinarischer Angebote, denen wir in einer globalisierten Welt begegnen, verändern diese kaum.Die besonderen Kombinationen, die wir beim Aufwachsen lernen, sind Teil unserer Identität. 

Was hat dies mit dem Konsum von Bacalhau zu Weihnachten zu tun?
Die Popularisierung des Verzehrs von Bacalhau und dem Entstehen des Mythos vom treuen Freund begann Ende des 18. Jahrhunderts. Dieser Prozess der Demokratisierung des Gerichtes setzte sich im 19. Jahrhundert fort, und immer stärker steigender Konsum bewirkte, dass im 20. Jahrhundert der Bacalhau zwar noch nicht zum täglichen Speiseplan gehörte, doch aber an besonderen oder festlichen Tagen ihn bereits der größte Teil der Bevölkerung integriert hatte. 

Es war ein jahrhundertelanger Prozess, der den Bacalhau zu einem wichtigen Nahrungsmittel in Portugal machte. Heutzutage ist der Bacalhau bei verschiedenen Festen und Wallfahrten in allen Teilen des Landes präsent, sei es bei der Segnung der Bacalhoeiros (symbolischer Akt während der Diktatur zur Verabschiedung der Fischer auf ihrem Weg nach Neufundland) oder der Beerdigung des Bacalhaus (feierlicher Akt am Halleluja-Samstag, mit dem das Ende des Verzichts auf Fleischverzehr vor Ostern gefeiert wird) oder dem festlichen Weihnachtsschmaus am Abend des 24. Dezembers.  

Der Verzehr von Bacalhau zu Weihnachten ist allerdings ein bereits sehr alter Brauch, da aus religiösen Gründen der Verzehr von Fleisch vom Beginn der Adventszeit bis zum Heiligen Abend verboten war und der Verzehr von Geflügel- und Fleischgerichten als Weihnachtsmahlzeit durch den Verzehr von Bacalhau serviert mit Kartoffeln und Kohl ersetzt wurde. Sollte es Reste vom Vorabend geben, trifft sich die Familie am nächsten Tag zum festlichen Weihnachts­mittag­essen, um die roupa velha aufzuessen. 

Das Vorhandensein von Bacalhau in der portugiesischen Küche
Die Verbindung zwischen dem Bacalhau und der portugiesischen Küche hat zu einem umfangreichen und reichhaltigen Repertoir an Rezepten geführt, zu dem sowohl die Hausfrauen als auch die Chefköche der berühmten und weniger berühmten Restaurants Portugals beigetragen haben. 

Der Küchenchef Vitor Sobral aus dem Alentejo beschreibt in seinem Buch 500 Rezepte der Zubereitung des Bacalhaus. Und es gibt Köche, die sagen, die Zahl ließe sich auf 1001 Rezepte erhöhen. 

Einige der Rezepte sind in der portugiesischen Gastronomie und in der Bevölkerung so stark verbreitet, dass sie landesweit bekannt sind und von Touristen als typisch portugiesische Gerichte wahrgenommen werden.

Beispiele hierzu sind: 

Bacalhau a Lagareiro: ein Rezept, das seinen Ursprung in den Beiras, in den Öfen der Olivenölpressung hat.

• Der Bacalhau à Zé do Pipo wurde von Zé do Pipo, dem Besitzer eines traditionellen Restaurants in Porto kreiert. Das Gericht erlangte große Berühmtheit, als das Rezept 1960 bei einem gas­tronomischen Wettbewerb einen Preis für das beste Gericht gewann. Es besteht aus Bacalhau mit Mayonnaise bestrichen und von Kartoffelpüree umgeben. Das  Ganze wird dann im Ofen gratiniert.

Bacalhau à Brás: kreiert von Brás, der im Bairro Alto in Lissabon lebte. Dieses typische portugiesische Gericht besteht aus einer Mischung von zerkleinertem Bacalhau, Rührei und Kartoffelchips. Das Rezept ist ein Klassiker, das in vielen portugiesischen Haushalten und Restaurants sehr geschätzt wird. 

Pasteis de bacalhau (Kartoffel-Bacalhau-Bällchen) wurden wahrscheinlich erstmals 1904 in dem Buch Tratado de Cozinha e Copa von Carlos Bandeira de Melo mit typisch portugiesischen Rezepten erwähnt und ist heute in allen Ecken des Landes bekannt.

Bacalhau com Todos oder Bacalhau do Natal ist ein Rezept, das bei jedem Portugiesen die Erinnerung an den Geschmack von festlicher, familiärer Wärme weckt. Es handelt sich um ein Rezept, bei dem der Bacalhau mit ­Kartoffeln und Kohl gekocht, dann mit Olivenöl abgeschmeckt wird und spätestens nach seinem Verzehr zu einem treuen Freund geworden ist.

Das Neufert-Haus in Weimar-Gelmerola

Foto vom Neufert-Haus in Weimar-Gelmerola

Zwei Leben für die Architektur: Ernst und Peter Neufert    von Gabriele Baumgarten-Heinke

> Im Spätsommer dieses Jahres lernte ich, eher zufällig, ein sympathisches, älteres Ehepaar in Berlin kennen. Er, Professor der Architektur und seine Frau, eine namhafte Architektin, die an mehren Gebäuden in Berlin ihre Handschrift hinterlassen hat. 

Beim Auflesen der ersten Klaräpfel im Garten ihres Hauses kamen wir schnell ins Gespräch und vielleicht um zu zeigen, dass ich da auch Jemanden aus der Architektur-Branche kenne, fragte ich, ob ihnen der Name Peter Neufert etwas sage. Diese Frage Architekten zu stellen, ist wohl ein eher ein fauxpas, wie ich schnell begreifen musste. Die Frau gab mir freundlich zur Antwort, »Wer keinen Neufert im Schrank zu stehen hat, ist kein ­Architekt«. Ich war für einen Moment verblüfft − die Bedeutung der Neuferts für die Architektur in dem Maße war mir nicht bewusst, und das Gespräch wurde für mich zum Anlass, mehr darüber erfahren zu wollen.. 

Es gibt ja zwei bedeutende Neuferts in der Architektur. Sie sprach von Ernst Neufert, der 1936 die erste Ausgabe der Bauentwurfslehre herausgegeben hatte. Dieses Buch gilt seit Jahrzehnten als Handbuch für Architekten und wird seit 1936 kontinuierlich aktualisiert. Es gilt wohl jetzt die 43. Auflage. Das Buch bietet grundlegende Kenntnisse für die detaillierte Entwicklung eines Bauprojektes. Ich dagegen sprach von Peter Neufert, dem Sohn von Ernst Neufert, den ich 1998 als Präsidenten der Deutsch-Portugiesischen Gesellschaft kennen lernen durfte. 

Ganz schnell waren wir bei dem Neufert-Haus in Weimar-Gelmeroda und bei der Frage, was denn daraus geworden sei. Sie meinte damit natürlich das Neufert-Holzversuchshaus im Bauhausstil, und ich verband mit dem Neufert-Haus eine DPG-Jahrestagung, die dort am 8.5.1999 stattfand. Zu dieser Jahrestagung hatte Peter Neufert, bereits gezeichnet durch seine Krankheit, sein langjähriges Amt als Präsident der DPG niedergelegt, und sein Stellvertreter, Harald Heinke, wurde zum neuen Präsidenten gewählt. Beide verband eine enge Freundschaft und eine große Leidenschaft für das Land und die Menschen in Portugal. 

Die Frage nach dem Verbleib und der Bedeutung des Hauses lies mich nicht mehr los, und um es zu verstehen, musste ich eintauchen in die Geschichte der Bauhaus-Architektur und ein bisschen in das Leben von Ernst und Peter Neufert.

Auf der Website der DBU Deutsche Bau-Union AG wird die Bauhaus-Architektur wie folgt beschrieben: »Die Stilepoche der Architektur hat ihre Wurzeln im idyllischen Weimar. Hier errichtete Walter Gropius erstmalig eine Schule, die aus dem Handwerk und der Kunst des Bauens eine Symbiose formte und beide Disziplinen an einer Schule lehrte. 1919 erschuf er eine Baukunst, die später den Namen ›Bauhaus‹ erhielt. Diese Kunst lebte davon, dass verschiedene Künstler aus unterschiedlichen Stilen zusammenkamen und ein gemeinsames Ziel verfolgten.«

Einer dieser Künstler war Ernst Neufert (1900−1986), der wegen der wärmephysikalischen Eigenschaften von je her eine Vorliebe für den natürlichen Werkstoff Holz hatte. Geboren in Freyburg/Unstrut und Besuch der Bürgerschule begann er, nach der Gesellenprüfung 1917 als Maurer, eine Berufsbegleitende Ausbildung an der Großherzoglich-Sächsischen Baugewerkenschule Weimar. Dem schloss sich ein Studium am Staatlichen Bauhaus in Weimar mit einer anschließenden einjährigen Studienreise durch Spanien an. Nach seiner Rückkehr 1921 nach Weimar erhielt er eine leitende Position unter Walter Gropius in dessen Architekturbüro in Weimar und Dessau. Als späterem Bauleiter fiel 1925 der Bauhaus– Neubau und die Meisterhaus-Siedlung in Dessau in seinen Zuständigkeitsbereich. Als er 1926 zum Professor an die Staatliche Bauhochschule in Weimar berufen wurde, galt er als der damals jüngste Universitäts-Professor in Deutschland.

1929 plante er in Weimar–Gelmeroda ein Wohnhaus mit integriertem Architekturbüro. Zu der Zeit, 1921, war er mit Alice Spieß-Neufert verheiratet. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor. Sein ältester Sohn, Peter Neufert (1925-1999), trat später in seine Fußstapfen. Ein Schreinergeschäft wurde mit der Errichtung des Hauses beauftragt, das nach nur sechs Wochen bezugsfertig war. Das zweigeschossige Haus wurde auf einer Fläche von 10×10 Meter errichtet und hatte Platz für Familie und Atelier. Im Hochparterre befand sich die Arbeitsetage mit Terrasse und im ersten Stock die Wohnräume der Familie mit Balkon. 

Dieses Haus galt als das erste Holzhaus des Bauhauses, ein Versuchsbau Neuferts, in dem er schwedische und nordamerikanische Vorbilder einfließen ließ. (Quelle: Villen in Weimar; Hans Hoffmeister). Teile des Baumbestands im Garten zeugen von den ursprünglichen Plänen Neuferts, das Haus mit einem Selbstversorger-­Garten zu umgeben.

Nach der Schließung der Bauhochschule 1930 durch die Nationalsozialisten erfolgte der Umzug nach Berlin. Peter Neufert lebte nach der Scheidung der Eltern 1939 in Dresden und machte 1943 an der Dreikönigsschule sein Abitur. Danach absolvierte er ein Studium der Architektur (1945−1949) an der TH Darm­stadt, an dem sein Vater einen Lehrstuhl für Baukunst innehatte. 1953 heiratet er Marys Stüssgen, aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Ab 1955 betrieb er sein selbständiges Atelier unter dem Namen Atelier Neufert Köln. 1972 gründete er eine Niederlassung des Architekturbüros in Lissabon. 1985 erfolgte der Umzug nach Portugal. Von 1986 bis 1999 war er Präsident der Deutsch-Portugiesischen Gesellschaft. 

Was aber wurde aus dem Neufert-Haus in Gelmeroda? Nach Ende des 2. Weltkrieges quartierte sich hier zunächst sowjetisches Militär ein. Danach wurden die zwei Stockwerke separat von verschiedenen Familien bewohnt. Es wird berichtet, dass die Familien, vor allem aber deren Kinder, das Haus mit dem großen Garten sehr liebten. 1991 wurde dem Rückführungsantrag der Erbengemeinschaft entsprochen. Bis auf wenige Änderungen war das Haus im Original erhalten und wurde von Peter Neufert und Katja Aulbach, geb. Neufert, (Tochter aus 2. Ehe von Ernst Neufert) in zwei Schritten saniert. 

Die Familie Neufert gründete 2001 die Neufert-Stiftung, um das architektonische Erbe von Ernst und Peter Neufert zu bewahren: https://www.neufert-stiftung.de/de Ein Anliegen von Peter und Ernst Neufert war es, die Ausbildung der Jugend zu fördern. Die Stiftung vergibt jedes Jahr Stipendien an nationale und internationale Studierende der Architektur und richtet Ausstellungen und Veranstaltungen in der Neufert-Box im Garten des Neufert-Hauses aus. Die Box wurde im Jahr 1999 aus Anlass des 100. Geburtstages von Ernst Neufert im Garten des Neufert-Hauses als Raum für Veranstaltungen und Ausstellungen errichtet. Zu den öffentlichen Veranstaltungen gehören unter anderem der Tag des offenen Denkmals und die Museumsnacht. Eine große Aufgabe ist die Realisierung von Ausstellungen zur zeitgenössischen Architektur. Es besteht die Möglichkeit, sowohl das Neufert-Haus als auch die Neufert-Box nach Voranmeldung zu besichtigen. Es ist die Aufgabe der Stiftung, die Bauentwurfslehre von Prof. Ernst Neufert fortzusetzen und das Neufert-Haus in Weimar von 1929 sowie die Neufert-Box zu pflegen. 

++++++++++

Vielen Dank an Nicole Delmes, Tochter von Peter und Marys Neufert, für die Unterstützung bei der Entstehung des Artikels.

Die DPG in Porto (Oktober 2021)

Foto von Weinfässern bei Graham's (Porto)

Bericht über Reise und Jahrestagung der Deutsch-Portugiesischen Gesellschaft (27.10.–31.10.2021)

> Wir möchten Ihnen Eindrücke aus allen Teilen des Reiseprogramms schildern. Die Module können einzeln gewählt werden, so dass alle je nach Zeit und Lust das buchen, was sie interessiert. Die Texte stammen von Gunthard Lichtenberg (GL) und An­­dre­as Lahn (AL).

Mittwoch, 27.10.2021 (GL) 
Pünktlich am späten Nachmittag des 27.10.2021 treffen wir uns in noch kleinem Kreise in einem netten Aufenthaltsraum (Lounge) des Hotels Vila Galé. Bei kleinen Petiscos und einem Gläschen Sekt begrüßt der frisch aus Lissabon eingetroffene DPG-Präsident Michael W. Wirges, die Anwesenden. Danach wechseln wir ins Hotel-Restaurant, wo wir à la carte essen. Die Qualität der Speisen und der Service sind ausgezeichnet. 

Donnerstag, 28.10.2021, I (GL)
Um 9 Uhr früh brechen wir mit einem Reisebus zur Besichtigung einiger Sehenswürdigkeiten Portos auf. Der kundige Reiseführer (Vicente) stellt sich vor. Erster Stopp ist die Casa da Música, das in jeder Hinsicht bedeutsame Konzerthaus an der Rotunda da Boavista, dessen Entwurf von einem niederländischen Architekten stammt. Der Bau wird 2005 eingeweiht und hat alle beeindruckt.

Foto vom Casa da Música in Porto

Casa da Música in Porto · © Gunthard Lichtenberg

Foto des Konzertsaals im Casa da Música in Porto

Konzertsaal im Casa da Música in Porto · © Gunthard Lichtenberg

Nächste Station ist der Park von Serralves. Die vom bekannten portugiesischen Architekten Álvaro Siza Vieira entworfene Anlage liegt mit Park, Herrenhaus und Museum für moderne Kunst an der Avenida Gomes da Costa, einer breiten Straße mit schönen, sehr teuren Häusern. Bei gutem Wetter gehen wir durch den schön angelegten Park und machen einen Rundgang im relativ neuen hölzernen Baumwipfelpfad.

Foto vom Casa de Serralves in Porto

Casa de Serralves in Porto · © Gunthard Lichtenberg

Foto vom Treetop Walk auf dem Serralves-Gelände in Porto

Treetop Walk auf dem Serralves-Gelände in Porto · © Gunthard Lichtenberg

Zur Mittagszeit lädt uns der Bus an der Cordoaria in der Nähe der Clérigos-Kirche ab, weil es hier viele Restaurants gibt. 

Nach dem Mittagessen treffen wir uns am Cordoaria-Platz, sehen uns die Livraria Lello von außen an und kommen einige Minuten später in der Avenida dos Aliados an, wo wir die Sicht auf das imposante Rathaus genießen. Nach Überquerung der Aliados gehen wir weiter bis zur zentralen Rua de Sá da Bandeira, an deren unterem Ende viele der alten Häuser bestens renoviert wurden. Auch das ehrwürdige und restaurierte Gebäude der Brasileira erstrahlt in neuem Glanze.

Blick auf das Rathaus von Porto

Blick auf das Rathaus von Porto · © Gunthard Lichtenberg

Obwohl viele schon etwas müde sind, geht der Weg weiter in die Rua de Santa Catarina zum Café Majestic, beliebter Ort für TouristInnen wegen der schönen ­Jugendstil-Dekoration, vielleicht aber auch, weil Joan K. Rowling hier das Konzept für ihre Harry Potter-Romane entworfen hat. Nach einem Blick in den mit 20.000 Kacheln verkleideten Bahnhof von São Bento gehen wir am Torre dos Clérigos vorbei zur Ribeira am Ufer des Douro. Alle sind glücklich und müde zugleich und deshalb froh, als der Bus gegen 18 Uhr das Hotel Vila Galé erreicht.

Blick in den Bahnhof von São Bento in Porto

Blick in den Bahnhof von São Bento in Porto · © Gunthard Lichtenberg

Donnerstag, 28.10.2021, II (AL)
Zum Abendessen finden sich jeden Tag unterschiedliche Gruppen zusammen, die sich selbständig ein Restaurant aussuchen. Bekannte sehen sich wieder und weniger Bekannte lernen sich besser kennen. Ich komme gerade aus Caniçada und gehe mit ins Restaurant eines anderen Hotels. Auch wenn Ambiente und Essen aus meiner Sicht nicht gerade spannend sind, ist es natürlich wundervoll, Menschen wiederzutreffen, die ich coronabedingt einige Jahre nicht gesehen habe. Wir haben uns den ganzen Abend über viel zu erzählen, alles vereint unter dem Oberthema Portugal.

Freitag, 29.10.2021 (AL)
Am nächsten Morgen steht der Bus pünktlich vor der Tür und fährt uns nach dem üblichen Check auf Vollständigkeit durch Porto in Richtung Douro-Mündung. Auch wenn die Sonne Porto meidet, ist die Stimmung gut. Viele kennen den Weg zur Küste. Erster Stopp ist das Toilettenhäuschen im Art déco-Stil, direkt am Douro gelegen. Keine Sensation, aber aufgrund der verwendeten Farben und Formen ein Hingucker und gut geeignet für einige Fotos zur Erinnerung.

Toilettenhäuschen im Art déco-Stil in Porto

Toilettenhäuschen im Art déco-Stil in Porto · © Andreas Lahn

Die Busfahrt geht weiter an der Douro-­Mündung entlang bis zur Atlantikküste in Matosinhos, wo ein schöner Strand zum Baden ist. Ich erinnere, dass ich vor einigen Jahren von hier aus am Strand entlang bis nach Porto gegangen bin. Doch unser Objekt der Begierde liegt noch einige Kilometer entfernt: die Fischkonservenfabrik Portugal Norte. Wir sind alle mit Sendern und Kopfhörern ausgestattet, um die erklärenden Texte des Reiseleiters zu verstehen. Die Fabrik betreten wir über einen Verkaufsraum, in dem auch einige Snacks und Kaffee serviert werden.

Foto einer Platte mit Fisch Snacks im Bistro der Companhia das Conservas

Fischiges im Bistro der Companhia das Conservas · © Andreas Lahn

Die Arbeitsstationen in der Fabrik sind natürlich aufeinander abgestimmt. Jede ArbeiterIn muss einen Arbeitsschritt ausführen, um die Fisch-Konserven so zu produzieren wie gewünscht. Vom ersten Stock haben wir einen guten Blick über die gesamte Produktion: von den gelieferten Sardinen über die versandfertigen Dosen bis zur Endkontrolle. Natürlich probieren wir noch einige Fisch­krea­tionen (Pasteis) im Bistro und tauschen Eindrücke über die gesehenen Fabrikationsschritte aus.

Foto von der Konservenfabrik Portugal Norte in Matosinhos

Konservenfabrik Portugal Norte in Matosinhos · © Andreas Lahn

Danach geht es per Bus weiter zum Portweinkeller der englischen Firma Graham’s auf die andere Seite des Douro nach Vila Nova de Gaia. Ein freundlicher Guide erläutert die einzelnen Arbeitsschritte für die Produktion von Portweinen und erklärt die unterschiedlichen  Qualitätsmerkmale von Ruby, Tawny, Late Bottled Vintage und Jahrgangsweinen.

Foto des Eingangs zum Portweinkeller von Graham’s in Vila Nova de Gaia

Eingang zum Portweinkeller von Graham’s in Vila Nova de Gaia · © Andreas Lahn

Die gigantischen Fässer um uns herum beeindrucken mich. Nach den theoretischen Erläuterungen folgt die praktische Prüfung, bei der wir zwei Portweine unterschiedlicher Qualitäten probieren. Isabel spendiert Mini-Pasteis und Trufas für alle, was die Portweine noch leckerer macht und die Stimmung weiter hebt. Vielen Dank! Wir genießen die Zeit miteinander, und viele kaufen sich den einen oder anderen Portwein. Ich gönne mir eine Mischung mit fünf kleinen Flaschen unterschiedlicher Qualitäten. In der Zwischenzeit sind alle Flaschen getrunken. Der weiße Portwein hat es mir angetan − einfach wundervoll!

Foto vom Portweinkeller von Graham’s in Vila Nova de Gaia

Führung im Portweinkeller von Graham’s in Vila Nova de Gaia · © Andreas Lahn

Der restliche Nachmittag steht zur freien Verfügung, was ich zum Arbeiten nutze. Abends treffe ich mich mit Stefan, um zusammen essen und plaudern zu gehen. Wir müssen nicht lange suchen, um bei leichtem Regen das Restaurant Roma mit portugiesischer Küche zu finden. Schöne Atmosphäre, freundliche Kellner, köstliches Essen und leckerer Wein: Was will man mehr?

Andere haben den Abend bei einem Fado-Konzert mit Abendessen verbracht, was natürlich gut zu Porto passt.

Foto einer Fado-Sängerin in Porto

Fado-Sängerin in Porto · © Michael W. Wirges

Samstag, 30.10.2021 (AL)
Am nächsten Morgen nutzen einige DPG-Mitglieder die Zeit zu einer einstündigen 6-Brücken-Tour auf dem Douro und kehren nach der Schifffahrt begeistert ins Hotel zurück, wo wir uns um 12.30 Uhr zum ­gemeinsamen Mittagessen treffen. Das bereitgestellte Buffet bietet eine gute Auswahl, so dass für jede etwas Leckeres dabei sein sollte.

Foto von der 6-Brücken-Tour auf dem Douro in Porto

Porto: 6-Brücken-Tour auf dem Douro · © Michael W. Wirges

Um 13.30 Uhr beginnt der Check-in zur Jahrestagung 2021. Als alle auf ihren Plätzen sitzen, gibt es technische Probleme bei der Zuschaltung von DPG-Mitgliedern aus Deutschland und Portugal, die aber nach einigen Minuten gelöst werden.

Jahrestagung der DPG in Porto: Foto von DPG-Präsident Michael W. Wirges

DPG-Präsident Michael W. Wirges spricht auf der Jahrestagung · © Andreas Lahn

Michael W. Wirges spricht in seinem Rückblick von einem »schwierigen Jahr«, da etliche Veranstaltungen aufgrund der Corona-Pandemie ausgefallen seien und die Kontaktpflege zur Zeit schwierig sei. Er verwies als Beispiel auf die Tourismusmesse ITB in Berlin und die Leipziger Buchmesse, auf der Portugal Gastland ist (nunmehr 2022). Immerhin fänden digitale Encontros regelmäßig statt, zusätzlich ein Weihnachts- und Oster-Encontro, auf dem einige Mitglieder stimmungsvolle Beiträge geleistet hätten. Der Präsident der DPG geht auch auf den Strategie-Workshop vom Juni 2021 in Berlin ein, wo bei der Auswertung der Mitgliederbefragung besonderen Wert auf den Aspekt gelegt werde, wer sich wie in die Arbeit der DPG einbringen könne. Die Geschäftsordnung sei neu erstellt worden und in einem 2-Jahres-Plan sollen anstehende Aktivitäten koordiniert werden. Michael W. Wirges berichtet, dass ein Corporate Identity (CI)-Konzept eingeführt worden sei, das einen einheitlichen Außenauftritt der DPG zum Ziele habe und Bereiche betreffe wie Visitenkarten, E-Mail-Adressen, Briefköpfe etc. Sein Schlusswort »Verantwortung ist nicht nur das, was man tut, sondern auch das, was man nicht tut« lässt Raum für verschiedene Interpretationen. 

Schatzmeisterin Gabriele Baumgarten-Heinke ist zugeschaltet und stellt Einnahmen und Ausgaben aus dem Jahr 2020 gegenüber. Es ergibt sich ein Überschuss von 3707,82€, was auch auf die erfolgreiche Spendenaktion zum Ende des letzten Jahres zurückzuführen sei. Aus diesem Grund gibt es eine ähnliche Aktion auch in diesem Jahr!

Foto von der Jahrestagung der DPG im Hotel Vila Galé in Porto

Jahrestagung der DPG im Hotel Vila Galé in Porto · © Andreas Lahn

Bei einem Brainstorming über die zukünftigen Notwendigkeiten in der Vereinsarbeit der DPG werden folgende Aspekte genannt: portugiesische Vereine ansprechen / Sprachreisen und Sprachkurse anbieten / Schnupperjahr: Mitgliedschaft bei der DPG im 1. Jahr kostenfrei / Generalkonsulate und Fluggesellschaften kontaktieren / Fernsehsendungen zu Portugal veröffentlichen / Musik (DPG-Chor!), Lesekreise, Kulturschaffende / Instituto Camões / Dia de São Martinho und andere portugiesische Traditionen / portugiesisches Pflegepersonal kontaktieren / Anzeige bei Olimar / portugiesische Läden und Geschäfte kontaktieren / Kochkurse anbieten /  Facebook-­Seite pflegen / Deutsche mit Bezug zu Portugal ansprechen / Fluggesellschaften / nächste Hannover-Messe im April 2022 und die Buchmesse in Leipzig (März 2022) haben Portugal als Schwerpunkt . Mal schauen, was von dieser Liste in den nächsten zwölf Monaten umgesetzt wird.

Ich selbst habe die Website der DPG vorgestellt und nochmals darum gebeten, Infos zu Veranstaltungen und kurze Berichte zu DPG-Aktivitäten zu schicken, doch wirklich Ernst scheint das kaum jemand zu nehmen … Ein Ärgernis für mich ist das Aussehen der Facebook-Seite der DPG. Neben uralten Veranstaltungen aus Leipzig steht dort kein Satz über oder aus dem PORTUGAL REPORT. Das wird sich aber hoffentlich bald ändern!

Als nächster Tagungsort wird Berlin festgelegt. Die Jahrestagung mit etlichen Wahlen soll dort am 29.10.2022 stattfinden. Das Programm wird rechtzeitig auf der Website und im PORTUGAL REPORT veröffentlicht.

Nach dem harmonischen Verlauf der Tagung ruhen sich alle ein Stündchen aus. Viele treffen sich um 19.30 Uhr zum gemeinsamen Essen im Hotel-Restaurant, wo bis in den späten Abend gegessen und geplaudert wird. Ja, auch die eine oder andere Flasche Wein muss dran glauben. Ein schöner Ausklang!

Sonntag, 31.10.2021 (AL)
Fast alles an diesen Tagen ist perfekt organisiert. Besten Dank also an alle, die für die Organisation verantwortlich sind. 

Ich selbst fahre am Sonntagmittag mit dem Alpha Pendular nach Lissabon, um noch drei schöne Tage dort zu verbringen, aber auch weil Ryanair mittlerweile so dämliche Handgepäckregeln hat, dass ich keine Chance habe, meine technische Ausrüstung (Kamera, Objektive, Laptop) als Handgepäck mitzunehmen. Nun gut: Wer keine Passagiere mehr braucht…

Ich hoffe, wir sehen uns alle in Berlin wieder. Viele andere und gerne auch neue Gesichter sind natürlich immer herzlich willkommen.

Flores (Açores): Maravilhosas mundiais

Poco da Ribeira do Ferreiro (Flores, Açores)

Esquecidos na listagem universal maravilhosas mundiais

Uma viagem á ilha de Flores (Açores)    de Eberhard Fedtke e Ana Carla Gomes Fedtke

> Talvez muita gente conheça as sete maravilhas do mundo antigo, mas se não conhece, deveria conhecer as sete maravilhas do mundo contemporâneo. Contudo, obviamente, que quando foram concebidas estas listas, quer um original antigo quer uma nova coleção moderna, de atrativas paisagens naturais e de preciosas e majestosas testemunhas do espírito humano no sector de arquitetura, certamente não vislumbrava desta listagem, o arquipélago dos Açores. Visitando este monumento impressionante endemicamente intacto, vê-se ­claramente que ambas as listas estão ­incompletas, para demostrar e testemunhar as belezas naturais de primeira ­categoria, incorporadas na relação e ­conexão com forças espirituais no mundo inteiro.

Falamos, neste caso, da ilha de Flores. Visitámos milagres imponentes, respetivamente, inexplicáveis. Começámos pelo Poço da Ribeira do Ferreiro. É uma aventura para visitar a pé. Por isso, deixámos o nosso carro no parque de estacionamento na estrada principal, entre Mosteiro e a Fajã Grande. Bem equipados, com ténis ou botas de montanha de solas seguras, precisamos de cerca de 45 minutes para subir até ao referido poço, num caminho de pedras naturais, lisas, com formas ­irregulares. Sem calçado adequado, advertiu a Dona Fátima, assistente no moinho de água, alguns metros ao lado do parque de estacionamento, entusiasta na demostração ao público, a forma de moer o trigo de milho, que a subida ao Poço da Ribeira do Ferreiro, com tempo de chuva ou caminho molhado é, ainda mais na descida, um risco muito grave para a vida, visto que se devem percorrer as placas escorregadiças, ainda sem corrimão, ao lado de um perfeito abismo. Ela tinha muita razão, mas nós tivemos um dia cheio de sol e uma dança segura, de uma sobre outra placa de pedra.

Chegados ao Poço, um autêntico e vasto anfiteatro, mágico, num muro de cor verde e castanho cumprimenta os turistas, cativados, neste deleite de unicidade para os olhos. Doze cascatas originais, uma ao lado da outra, talvez mais ainda, certamente invisíveis por debaixo da proteção da cortina verde, semelhantes às tranças cintilantes, refletem a sua força elementar no poço em baixo, ecoando numa música lírica calmante e doce.  Não é permitido nadar nesta mina de água puríssima. As plantas no fundo de poço são um mar de inspiração poético, parecem autênticos corais. 

Um guarda, o senhor Gilberto, contabiliza o número dos visitantes, com exceção ao sábado e domingo, e certifica-se que ninguém abusa deste lugar paradisíaco; não faz campismo, não faz grelhados, nem pesca. Um distúrbio moderno é o crescendo uso de drones para explorar o firmamento ilustre deste lugar fora do mundo. Mas a natureza defende-se, como fomos testemunhas duma tentativa eufórica: O muro gigante apanha aparelhos inoportunos. «Foram apanhados só no dia de hoje, oito peças», diz o Senhor Gilberto com um sorriso ambíguo. «Bravo, natureza corajosa!» Partimos desta fantástica atmosfera com uma autobiografia íntima, de harmonia perfeita e com uma ecologia manifestamente equilibrada, à semelhança dos Jardins Suspensos da Babilónia. Em soma, uma universalidade sensível, estamos convictos de que este lugar, com a sua beleza penetrante e a sua policroma e indiscutível autenticidade, tem o puro direito de constar numa lista de maravilhas do mundo.

O segundo lugar de Flores que merece uma homenagem nesta lista famosa é a Rocha do Bordões. Esta joia encontra-se no caminho Mosteiro — Lajes de Flores. A construção gigante natural da lava não dá uma lógica explicação de formação vulcânica ao observador. Como é possível esta combinação de material de lava numa profusão vertical e horizontal? Já a parte baixa do monte, com estratos ­filigranes tão regulares, parece um ­trabalho humano e não o resultado de um sedimento salvagem dum cospe-fogo natural. Feitas as contas, até para nós, nos parece um fenómeno contra as regras fixas da gravitação na terra. Ninguém nos pode dar uma explicação plausível desta configuração oposta entre o magma petrificado, na parte em baixo, numa rígida posição vertical com ripas iguais, e o chapéu em cima, que prova um sistema lógico, mais ou menos horizontal do cenário final duma erupção. A lava iluminada em cor salmão pode refletir pensamentos poéticos até fantasias hipnóticas. 

Arqueólogos falam de um milagre carismático, desta Rocha de Bordões. Como poderia ser melhor a uma merecida legitimação, se não a de conferir uma honra escolhida numa lista de maravilhas do mundo? Não pode haver uma maravilha mais convincente e gigantesca de caráter e preferência mundial. A Rocha dos Bordões como perfeita elaboração da natureza, pode concorrer com a Grande Pirâmide de Gizé e Chichén Itzá, ambas construções únicas da mão humana, podendo, pelo menos, este, ser pretendido como um modelo honesto, à distância de um mundo autóctone. 

Interview mit José Luis Encarnação

Foto von José Luis Encarnação · Foto: © JL Encarnação

José Luis Encarnação:
Aus dem Leben einer Leistungsbestie

Interview mit DPG-Mitglied José Luis Encarnação über einige Episoden aus seinem Leben und seiner Karriere in Deutschland • von Andreas Lahn

Als ich im hessischen Reinheim ankomme, spüre ich schon, dass besondere Stunden vor mir liegen. Professor Encarnação wohnt seit 1975 hier mit seiner Frau Karla und hat am 29.5.2021 seinen 80. Geburtstag gefeiert.

PORTUGAL REPORT: Sie werden 1941 in Caparide 20 Kilometer westlich von Lissabon geboren. Ihre Kindheit verbringen Sie dort, in Estoril und Cascais an der Costa do Sol. Diese Gegend lieben Sie auch heute noch, oder?
José Luis Encarnação (JLE): Ja, ich liebe sie sehr. Wir sind heute noch regelmäßig dort, etwa einmal im Jahr. Ich habe von meinen Eltern das Haus in Cascais geerbt, das mittlerweile auch von meinen Kindern und Enkelkindern für ihre Urlaube gern genutzt wird. Ich liebe diese Gegend nach wie vor, das Meer, das Klima, ihre Leute, das Essen! Der »zentrale Kern« meiner Familie lebt leider nicht mehr; ich habe jedoch dort noch einige Cousins, gute Freunde und Schulfreunde, die ich gern besuche. Auch deshalb ist immer wieder schön, dort zu sein.

Ist die Gegend für Sie so etwas wie eine zweite Heimat?
JLE: Ich pflege zu sagen, dass es für einen Menschen wie mich drei Heimaten gibt: Die erste ist dort, wo ich geboren bin und als Mensch geformt wurde. Das waren meine ersten 18 Jahre in Portugal. Geformt wurde ich von der Familie, in der Schule und vom portugiesischen sozialen und kulturellen Umfeld. Die zweite Heimat ist dort, wo ich meine Frau kennengelernt habe, eine Familie gegründet habe, wo die ersten Kinder zur Schule gegangen sind, wo ich sozusagen das Fundament für mein Leben allgemein gelegt habe. Das ist für mich Berlin. Ich war über 13 Jahre dort. Berlin ist daher für mich die Familien- und Ausbildungsheimat. Und die dritte Heimat ist dort, wo ich mich beruflich entwickelte und eine Karriere gemacht habe. Das ist für mich nun Darmstadt. Am besten subsummiert man alles unter dem Begriff: Ich bin ein richtiger »Europäer«! 

Die Schulbank drücken Sie in einer Schule in Estoril, in der fast ausschließlich Priester unterrichten. Was geben Ihnen die Salesianer mit auf den Weg?
JLE: Die Salesianer waren zwar Priester, aber die Schule war kein Priesterseminar, sondern eine richtige Privat-Schule, die von Salesianern betrieben wurde. Was heute weltweit als das deutsche Schul-Modell gesehen wird – das duale System – wo man zwei schulische Zweige in der selben Schule hat, eins in Richtung Abitur und ein zweites mehr berufsorientiert und in dem man ein Beruf erlernt. Nach der Grundschule konnte man nach einer Beratung durch die Salesianer selbst entscheiden, ob man den kaufmännischen bzw. handwerklichen Zweig einschlagen wollte oder auf das Gymnasium geht.

Ich war meine gesamte Schulzeit in dieser Schule und habe dort beides, Grundschule und Gymnasium, absolviert. Die Priester waren die Lehrer, die uns zu Leistungsmenschen geformt haben. Wir mussten etwas leisten, um unseren Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden und zu sichern. Ein Beispiel: Damals gab es bei uns die «Mocidade Portuguesa», so eine Art von »Hitler-Jugend«. Jeden Samstag vormittag sind wir von Offizieren der portugiesischen Armee ausgebildet worden, mit einem gewissen Drill und politischen Reden. Die Priester haben aber ganz süffisant – auch um legal zu bleiben – alles relativiert, indem sie die Unterrichtsstunden in Geschichte oder Philosophie meistens auf einen Montag gelegt und dazu benutzt haben, um dort die Themen zu behandeln, über die wir gerade am Samstag von den Militärs gehört hatten. 

Das war wirklich eine tolle Schule, und ich fühle mich den Salesianern auch heute noch sehr verbunden.

Die Schule ist nicht kostenlos gewesen. Gab es Probleme, das Schulgeld aufzubringen?
JLE: Für Typen wie mich war das Schulgeld (die Propinas), das mein Vater bezahlen musste, extrem wichtig. Denn der monatliche Beitrag war leistungsabhängig, d.h., wenn man in der Schule gute Leistungen abgeliefert hat, musste man nur wenig bezahlen. Viele Kinder der reichen Familien in Estoril sind jeden Morgen um 8 Uhr vom Chauffeur zur Schule gefahren worden, während ich mit meinem Kittel zu Fuß in die Schule marschiert bin. Die Reichen haben aber selbst viel dafür bezahlt, dass sie auf diese Schule gehen konnten und haben dadurch indirekt mich mitfinanziert. Ich selbst komme aus einfachen Verhältnissen. Das Geld war bei uns also knapp. Ich musste in der Schule gute Leistungen erbringen, um wenig zu bezahlen. Und das wusste ich auch, denn sonst hätte mein Vater die Schule nicht finanzieren können. Das war der Grund, warum ich zu einer Leistungsbestie wurde. Mir war schon damals klar, dass ich nichts geschenkt kriege. Ich wurde deswegen sowohl in der Schule als auch im Sport gut, da ich immer den Willen in mir hatte, etwas zu schaffen, um etwas zu erreichen. Niemand hat es mir gesagt, niemand hat es von mir gefordert: Aber wenn du etwas willst, musst du dafür auch etwas bringen!

Foto von José Luis Encarnação in seinem Arbeitszimmer

José Luis Encarnação in seinem Arbeitszimmer · Foto: © Andreas Lahn

Nach dem Entschluss, Elektrotechnik in Deutschland zu studieren, kommen Sie 1959 in Aachen an und landen nach einigen Monaten schließlich in Berlin, wo Sie im August 1961 den Bau der Mauer hautnah erleben. Was denken und fühlen Sie bei dem Stichwort »Mauerbau«?
JLE : Man muss es schon erlebt haben! Ich saß am 13. August 1961 am Schreibtisch, habe gelernt und dabei Radio gehört. Plötzlich wurde die Musik durch die Meldung unterbrochen: »Die DDR baut gerade eine Mauer!« Ich habe zunächst gedacht, ich hätte das falsch verstanden und mein Deutsch sei immer noch furchtbar schlecht. Was meinen die mit dem Bau einer Mauer? Das ging nicht in meinen Kopf, weil es für mich keinen Sinn ergab. Ein anderer Mieter im selben Haus, wo ich wohnte, hatte eine Freundin aus Ostberlin. Den beiden habe ich erzählt, dass ich im Radio gehört hätte, zwischen Ost- und Westberlin werde eine Mauer gebaut. Es gab sofort eine große Aufregung, denn die Frau hatte eine pflegebedürftige Mutter in Ostberlin. Wir sind dann mit meiner Klapperkiste zum Brandenburger Tor gefahren, wo sie dann die Westberliner Polizei gefragt hat, was gerade passiere. Und diese hat dann ihr geantwortet: »Wenn Sie jetzt rübergehen, dann müssen Sie auch drüben bleiben.« In diesem kurzen Augenblick musste sich diese Frau zwischen ihrer großen Liebe und ihrer pflegebedürftigen Mutter entscheiden. Sie hat sich für die Mutter entschieden. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. 

Die Familie meiner späteren Frau Karla war damals über beide Teile der Stadt verteilt. Ich konnte als Portugiese weiter hin- und herpendeln und habe es deswegen übernommen, so eine Art »Kommunikations- und Briefträger« in ihrer Familie zu sein. Das zeigt die ganze Dramatik der Berliner Mauer. Später, als die Berliner Mauer fiel, war ich nicht mehr in Berlin. Ich war gerade mit dem Auto in Frankreich dienstlich unterwegs und habe im Radio auf Französisch gehört, die Berliner Mauer sei gefallen. Ich habe nur gedacht: »Dein Französisch wird immer schlechter«, weil ich mir alles vorstellen konnte, nur nicht, dass die Mauer fällt. Als ich nach Hause komme, sitzt dann meine Frau weinend auf der Couch, zeigt auf das Fernsehbild und sagt: »Guck mal, die Mauer ist gefallen!« Die Mauer hat – weil ich sie erlebt habe – schon einen  emotionalen und ganz festen Platz in meiner persönlichen Geschichte.

Das Studium beginnt im Wintersemester 1961/1962. Wissen Sie als Student schon, wie Ihr Arbeitsleben später aussehen soll?
JLE: Ich wusste frühzeitig nur, dass ich Elektrotechnik studieren wollte. Das war schon eine Entscheidung, die ich in der Schule bei den Salesianern getroffen habe, denn ich war in der Schule gut in Mathematik und Physik und wollte ja nach dem Studium eigentlich in Portugal arbeiten. Dort gab es dazu gute Möglichkeiten in der Energieversorgung oder in der Kraftwerkstechnik. Deshalb habe ich auch Starkstromtechnik studiert. In den ersten Semestern war das meine Orientierung.

In Ihrem Leben ist Vieles wie am Schnürchen gelaufen. Nur die Hochzeitskutsche ist erst 2013 und damit 50 Jahre zu spät gekommen. Was ist passiert?
JLE: Wir waren damals Studenten und hatten auch für unsere Hochzeit nicht viel Geld. Ich wollte meinen Eltern dafür nicht um zusätzliches Geld bitten. Wir haben daher damals zwar schön, aber auch bescheiden geheiratet. Wir haben eine schöne Feier gehabt, leckere Sachen gegessen und Freunde und Studenten eingeladen, auch portugiesische. Während der darauffolgenden 50 Jahre hat meine Frau aber immer mal wieder dezent darauf hingewiesen, dass wir keine große Hochzeitstorte gemeinsam geschnitten und keine Kutsche bei der Hochzeit hatten. Irgendwann habe ich beschlossen: »So, dir werde ich es zeigen!« Als sich unser 50. Hochzeitstag näherte, bin ich dienstlich häufig nach Berlin gefahren und habe bei der Gelegenheit eine schöne Goldene Hochzeitsfeier in Berlin organisiert, mit Besuch der Kirche, wo wir 1963 geheiratet hatten, und den großen Kuchen in einer Konditorei bestellt, den wir 1963 nicht hatten. Ich habe Plätze in einem tollen Restaurant reserviert, eine schöne Abendveranstaltung gebucht und eine Kutsche besorgt, die an dem Tag immer vor der Tür stand. Unsere Söhne, die über alles eingeweiht waren, und ihre Frauen sind – als Überraschung für meine Frau – nach Berlin gekommen, um mit uns zusammen eine wunderschöne Goldene Hochzeit zu feiern! Die Überraschung ist gelungen, die Feier war ein Erfolg – und seitdem herrscht zu dem Thema der zu bescheidenen Hochzeit von 1963 Stille. Das Organisieren war zwar viel Arbeit, hat aber auch viel Spaß gemacht. 

1968 schließen Sie das Studium als Diplom-Ingenieur ab und wollen eigentlich nach Portugal zurückkehren. Doch Sie erhalten ein Promotions-Stipendium der Gulbenkian-Stiftung und können so am Heinrich-Hertz-Institut als Doktorand arbeiten. Ohne dieses Stipendium wäre Ihr ganzes Leben komplett anders verlaufen, oder?
JLE: Mit Sicherheit! Ich hatte zwar schon ein Angebot aus Portugal, um dort in einem Rechenzentrum zu arbeiten. Als ich aber in dem Sommer in Portugal war und Ferien machte, habe ich mehr zufällig erfahren, dass die Stiftung Gulbenkian Stipendien im Bereich Technik- und Ingenieur-Wissenschaften für die Promotion im Ausland ausgeschrieben hatte. Ich habe mich dafür beworben und habe bei starker Konkurrenz ein Stipendium bekommen. Mit dem Stipendium in der Tasche musste ich nur noch einen Doktorvater finden, der mich nur nehmen, aber ja nicht finanzieren musste. Ich brachte das Geld sozusagen mit! Professor Giloi am Heinrich-Hertz-Institut hat entschieden, mich als Doktorand aufzunehmen. Für ihn war ich praktisch eine kostenlose wissenschaftliche  Arbeitskraft. So bin ich zu meiner Doktorandenstelle gekommen. 

Sie sind 1972 als Assistenz-Professor nach Saarbrücken und dann 1975 dem Ruf auf eine C4-Professur mit eigenem Lehrstuhl an die TU Darmstadt gefolgt. Worum geht es im Fachgebiet «Computer Graphics»?
JLE: Man muss die deutsche Beamten- und Gehaltsstruktur kennen: C4 ist das, was man früher Ordinarienstelle genannt hat und die höchste Stufe in der Professorenleiter. Ich wurde Inhaber eines Lehrstuhls, den Professor Piloty im Rahmen des ÜRF Informatik an der TU Darmstadt geschaffen hatte. Die Informatik hat sich in Deutschland zwischen 1968 und 1975 an den Hochschulen etabliert. Wenn man eine Fakultät bzw. einen Fachbereich hat, gibt es dort mehrere Fachgebiete und Disziplinen, die in ihrer Gesamtheit dieses Fach ausmachen. In der Informatik gab es Programmiersprachen, Datenbanken, Rechnerarchitektur, Netze, etc. Eines dieser Fächer an einigen Hochschulen war «Computer Graphics», weil mein Doktorvater, Professor Giloi, und einige andere wichtige deutsche Professoren  (z.B. Piloty in Darmstadt und Hotz in Saarbrücken) sich dafür stark und Lobby-Arbeit gemacht haben, dass Computer Graphics eines der Fächer in der Informatik an ihre Universitäten werden konnte. Ich war einer der ersten, die in diesem Fach in Deutschland damals bereits promoviert hatten und deshalb prädestiniert für diese neue Professur an der TU Darmstadt. Drei Jahre nach meiner Berufung nach Saarbrücken habe ich dann den Lehrstuhl in Darmstadt bekommen. 

José Luis Encarnação in seinem Arbeitszimmer

José Luis Encarnação: In seinem Arbeitszimmer schaut die ganze Familie zu

Was aber ist «Computer Graphics»? Dieses neue Fachgebiet beschäftigt sich mit allem, was in Form von Algorithmen, Programmier-Verfahren sowie gerätetechnisch in Hardware und Software notwendig ist, um aus dem digitalen Rechner ein Instrument zu machen, das nicht nur Zahlen produziert, sondern diese in Bilder umwandelt, um den Menschen so in die Lage zu versetzen, mit den Bildern zu interagieren, und das selbstverständlich im Kontext einer bestimmten Anwendung zu nutzen. Für die Arbeit in diesem Fachgebiet, das zu der Zeit noch ein Nischen-Fachgebiet war, also eine neue Disziplin im «modus nascendi», bin ich nach Darmstadt berufen worden und habe dort im Jahre 1975 einen Lehrstuhl bekommen mit drei Mitarbeitern, einer Sekretärin und einem Programmierer als anfängliche Grundausstattung. Als ich im Jahre 2009 emeritierte, arbeiteten in diesem Fachgebiet an der TU Darmstadt und angeschlossenen Einrichtungen um die 1000–1200 Leute in Lehre und in Forschung. Wir haben damit das Gebiet aufgebaut, ausgebaut und waren ein starker Motor für die allgemeine Entwicklung und Durchsetzung dieses neuen Fachgebietes der Informatik in Deutschland und sogar in Europa. 

Fortan sind Sie an der Erforschung von Schlüsseltechnologien beteiligt. Ich kenne Begriffe wie Virtual Reality, Augmented Reality und Storytelling erst seit einigen Jahren, Sie bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten. Dauert die Umsetzung technischer Neuerungen immer so lange?
JLE: Man muss zuerst die Technologie entwickeln, dann muss sie zu einem vernünftigen Preis-/ Leistungsverhältnis reifen und so umsetzbar sein, dass sie von denen, die sie benutzen, auch akzeptiert wird. Ich habe im ersten Drittel dieses Prozesses, also in der Entwicklung dieser neuen Innovationen, mitgearbeitet. Die meisten Technologien, über die heute in diesem Kontext geredet wird, wurden in meiner aktiven Zeit erfunden und entwickelt. Wenn Sie das Handy als Beispiel nehmen, dann hat die Entwicklung in diesem Bereich bei mir die folgende Vorgeschichte: Ich war damals als Experte in einer Aufsichtsratssitzung der Deutschen Telekom und bekam in der Diskussion mit, wie der für Forschung zuständige Direktor der Telekom meinte, dass man mit dem Telefon nicht nur Sprache, um zu kommunizieren, übertragen sollte. Denn das würde nur wenig Geld bringen und die Übertragungskapazitäten nicht voll auslasten. Er meinte, dass man es schaffen müsste, Bilder über das Telefon zu übertragen, um damit mehr Bits/Sekunde über die Leitung zu bekommen und so ein besseres Geschäftsmodell zu etablieren. Das habe ich mir gemerkt, denn ich fühlte mich für die Bildkommunikation zuständig. Ich habe daraufhin alle Abteilungsleiter in meinem Institut zusammengetrommelt, um das Thema zu erörtern und um zu diskutieren, wie wir es möglich machen können, Bilder per Telefon zu übertragen. Der für mobile Kommunikation in meinem Institut  zuständige Abteilungsleiter hat mir damals einen Vogel gezeigt und gesagt: »Das kann doch gar nicht gehen, schon gar nicht  bei so einem kleinen Bildschirm.« Die Diskussion ist so eskaliert, dass er später sogar gekündigt hat. Wir kamen nicht zusammen, weil ich von ihm Bilder auf dem Telefon wollte, und er sagte, so etwas ginge nicht. Ich konnte ihm auch noch nicht sagen, wie das gehen sollte, denn das musste ja erst erforscht werden. Heute sehen Sie, was mit einem Telefon alles möglich ist. Das zeigt, dass ich in meiner damaligen Position als Leiter einer Innovations-und Forschungseinrichtung in der Lage sein musste, »die Bälle zu fangen, wenn die in der Luft sind«! Mein erstes Lebensmotto in dieser Position war immer »Geht nicht gibt’s nicht!« und als zweites Motto galt für mich: »Wollen reicht nicht, man muss es auch machen!« Und wir haben es ja auch gemacht und nach einigen Jahren dann auch geschafft! Sie sehen heute, was für Bilder und Videos man mit dem iPhone übertragen und damit kommunizieren kann. Mein Institut, das Fraunhofer Institutut für Graphische Datenverarbeitung (IGD), gehört zu denen, die hierbei sehr früh mitgeforscht und mitentwickelt haben.

Viele Technologien im Bereich Virtual und Augmented Reality haben wir im Wesentlichen für die Automobilindustrie und für die Unternehmen der Medizintechnik erforscht und entwickelt, und später dann auch für die Entertainment-Industrie. Die Hauptfinanzierer von Forschungsprojekten waren hierbei also nicht nur das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die EU-Forschungsprogramme, sondern auch Teile der Industrie, ohne die viele Projekte zur Erforschung und Vor-Entwicklung etlicher Innovationen und Technologien, die heutzutage schon fast wie selbstverständlich erscheinen und eine sehr intensive und erfolgreiche Anwendung finden, gar nicht denkbar wären.

Sie nennen sich selbst eine »Leistungsbestie«. Das neue Gebiet der Graphischen Datenverarbeitung ist genau das Richtige für Sie, um sich in den folgenden Jahrzehnten Ihres Arbeitslebens so richtig auszutoben, nicht wahr?
JLE: Alles auf dem Gebiet der Computer Graphics war in der damaligen Zeit noch neu und ziemlich jungfräulich. Egal, was ich gemacht habe: Es war innovativ und neu! Nicht alles, aber vieles war sehr gut einsetzbar und zu benutzen und damit sehr erfolgreich in der Anwendung. 

Das IGD hat unter Ihrer Leitung u.a. für die Weltausstellung Expo 1998 in Lissabon das «Oceanário» auch virtuell präsentiert. Wie wichtig ist dies Ende der 1990er Jahre für Sie und für Portugal?
JLE: Ich war damals in Portugal noch völlig unbekannt. Ich bin als 18-Jähriger von aus Portugal weggegangen. Wenn man studiert, entstehen dabei schon unter den Kommilitonen Netzwerke an Beziehungen, wodurch man im Studium zusammenarbeitet und sich besser kennenlernt. Davon profitiert man später im Berufsleben. Ich hatte in Portugal keine Leute, die mich beruflich kannten, da ich nicht in Portugal studiert habe. 

Allgemein wurde ich aber durch das wachsende Interesse an allem, was mit Computer Graphics zu tun hatte, international zu einem gefragten Referenten. Ich habe weltweit Vorträge gehalten, mich an Workshops beteiligt und an Summer Schools Vorträge gehalten. Bei einer dieser Summer Schools in Bayern hat mich eine Teilnehmerin, Madalena Quirino, angesprochen, eine Portugiesin, die am Institut für Bauingenieurwesen, dem LNEC (Laboratório Nacional de Engenharia Cicil) in Lissabon in der Informatik tätig und gleichzeitig Dozentin an der Universität war. Sie hat mich dort gefragt, ob ich nicht auch mal in Portugal einen Kurs über Computer Graphics geben wolle. Das war gut für mich und der Türöffner nach Portugal, weil ich so endlich in ein akademisches Netzwerk in Portugal hineinkommen und dadurch auch dort bekannt werden würde. Ich habe also zugesagt und mit ihr einen Kurs im LNEC verabredet.

Dann kam die Expo 1998. Wir waren schon damals mit unserem Institut IGD weltweit eine der Hauptquellen für die Entwicklung der Virtuellen Realität. Und deswegen habe ich den Organisatoren der Expo das Virtuelle Ozeanarium als Idee verkauft. Da Portugal viel mit Wasser und Natur zu tun hat, machte schon deshalb ein Oceanário viel Sinn, umso mehr, als sich vieles wunderbar in der Virtuellen Realität darstellen lässt. Die Fische z. B. sind zwar nicht da, aber wir können sie programmieren und darstellen. Bei der Expo gab es lange Warteschlangen, weil nicht alle Leute gleichzeitig ins Oceanário, d.h. ins Gebäude, gehen konnten. Also haben wir die auf den Einlass wartenden Menschen mit verschiedenen Fischdarstellungen und -Animationen im Virtuellen Ozeanarium beim Warten unterhalten. Sie hatten fast das Gefühl, in einem richtigen Aquarium zu sein. Alle waren happy, und es gab beim Warten keine Langeweile und auch keine Unruhe!

Außenansicht vom Oceanário de Lisboa, virtueller Fischschwarm und Nixe zur Expo 1998

Außenansicht vom Oceanário de Lisboa, virtueller Fischschwarm und Nixe zur Expo 1998 · Grafiken: © J.L. Encarnação

Forschungsmäßig war das Virtuelle Ozeanarium auch für uns sehr interessant, denn es gab viele offene Forschungsfragen. Wir wussten damals u.a. noch nicht, wie man Schwärme von Fischen und ihre natürlichen Bewegungen programmiert. Welches sind die Algorithmen, die man dafür entwickeln und programmieren muss, damit sich die Fische in Gruppen natürlich bewegen? Das wurde zu einem Forschungsthema, das interessant war und Sinn machte…  Und wir hatten durch das Virtuelle Ozeanarium  ein finanziertes Forschungs- und Entwicklungs-Projekt. Wir haben dieses Virtuelle Ozeanarium dann auch mit Beteiligung von Kollegen aus Lissabon konzipiert und realisiert. Das wurde zu einem großen Erfolg, und damit wurde Computer Graphics auch in Portugal zum Thema für das dortige universitäre Umfeld und die lokale Forschung. Und ich wurde damit – ganz nebenbei – in Portugal zu einem gefragten Mann, weil erkannt wurde, was in diesem Forschungsgebiet steckt und was damit alles möglich gemacht wird. Außerdem sah mich die lokale wissenschaftliche Community als »einen von uns, der da Bescheid weiß und dort Pionier ist«. Das hat mir die Tür zur wissenschaftliche Community in Portugal geöffnet.

Virtuelles Aquarium bei der EXPO 1998 in Lissabon

Hai im virtuellen Aquarium bei der EXPO 1998 in Lissabon · Grafik: © JL Encarnação

Ihr Traum ist es u.a., die Bedienung von Computern interaktiv zu gestalten. Wie beim Edutainment sollen sich mit dem Projekt EMBASSI Bedienungsanleitungen eher über Bilder als über Text einprägen. Alle Firmen haben dies auch heute noch nicht verstanden, oder?
JLE: Das ist ein schwieriges Thema, weil die Vermittlung von Wissen so natürlich wie möglich sein sollte. Lernen sollte über die Spracheingabe funktionieren, ergänzt durch Fühlen und Anfassen, was über Virtual und Augmented Reality virtuell ermöglicht wird.  Die Menschen sind als Gruppe aber nicht homogen. Und so gibt es Geschickte und Ungeschickte, Gebildete und Ungebildete, Ausgebildete und Nicht-Ausgebildete, etc.… Und wenn wir sagen, dass es eine Schnittstelle gibt, die natürlich sein soll, dann bedeutet das, dass über den Computer diese Natürlichkeit nur angeboten werden kann, indem er sich dem Anwender anpasst. Der Computer muss also wissen, wer vor ihm sitzt und letztlich die Frage beantworten: Ist er blöd oder eher intelligent und geschickt und dies zu welchem Grad? Er muss auch die Natürlichkeit der Anwendung für den denjenigen optimal gestalten können, der in diesem Augenblick der Nutzer ist. Und genau dies wird heute immer besser möglich, denn durch die Techniken der sog. künstlichen Intelligenz (KI, AI) mit ihren lernfähigen Algorithmen, kann der Computer das jeweilige Benutzungsverhalten erkennen und sich anpassen.

Sie sind mit Auszeichnungen überhäuft worden: Bundesverdienstkreuze, Hoher Orden des heiligen Jakob vom Schwert (Portugal), Medaillen, Preise, Ehrendoktorwürde. Wie empfinden Sie diese beeindruckende Würdigung Ihres gesamten Arbeitslebens?
JLE: Ich bin nicht der Typ, der die ganzen Auszeichnungen wie ein General an der Brust mit sich herumträgt. Aber Auszeichnungen sind auch wichtig, weil wir alle uns als Menschen freuen, wenn wir für die geleistete Arbeit gelobt werden. Ich gehöre auch dazu, und deshalb freue und bedanke ich mich – aber nur, wenn die Auszeichnungen begründbar sind und Sinn machen. Ich habe die Auszeichnungen deswegen für mich in verschiedene Klassen eingestuft: Ich habe in Deutschland von der Regierung drei Bundesverdienstkreuze bekommen, vom kleinen bis zu dem am Bande, alle zehn Jahre eines. Eines könnte Glück sein, das zweite könnte Beziehungen als Ursache haben, aber bei dreien muss die deutsche Forschungs-Community meine Arbeit schon anerkannt haben. Und das als portugiesischer Einwanderer erreicht zu haben, macht mich stolz! Auch dass Darmstadt, die Stadt, in der ich arbeite, mich zum »Heiner« gemacht hat, (Heiner ist die volkstümliche Bezeichnung für die Darmstädter) macht mich auch sehr stolz. Und dass die TU Berlin, die Universität, in der ich als kleiner Student angefangen habe und in der ich zum Forscher wurde, mir einen Ehrendoktor gibt, freut mich immens und ehrt mich sehr. Und auch darüber, dass Portugal, obwohl es mich 30 Jahre lang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat, mir den Orden des heiligen Jakob vom Schwert verliehen hat, freue ich mich sehr. 

Es gibt auch Preise, die nicht in diese sozialpolitische Klasse von Ehrungen fallen und mehr von reiner fachlicher, akademischer Natur sind. Es gibt eine Organisation im Bereich Computer Graphics, die ACM SIGGRAPH (USA). Ich war bis 2020 der einzige Nicht-Amerikaner, der diesen Preis bekommen hat. Dieses ist weltweit der höchste Preis für unser Fachgebiet, also so eine Art »Nobelpreis für Computer Graphics«. Der einzige andere Europäer, der diesen Preis bisher bekommen hat, ist mein ehemaliger Doktorand Markus Groß, der jetzt Forschungs-Chef bei Disney ist und diesen «Steve Coons Award» 2021 bekommen hat. Dieser Preis wird nur alle zwei Jahre verliehen. 

Das alles sind Preise, die einen nicht nur ehren, sondern die einen auch sehr freuen, weil diese Ehrungen nicht zufällig kommen. Natürlich haben mich auf meinem Weg viele Menschen unterstützt. Bisweilen konnte ich auch manchmal Zufälle zu meinem Vorteil nutzen. Aber dass ich am Ende diese großen Anerkennungen in Form verschiedener Auszeichnungen und Preise erfahren durfte, kann kein Zufall sein. Es wird mir niemand übelnehmen, dass ich sehr  stolz darüber bin, alle diese Preise bekommen zu haben. Das soll keine Angeberei sein, sondern ist das Zeigen von Freude und Stolz über die Anerkennung für die von mir geleistete Arbeit durch andere, nämlich sowohl durch die Allgemeinheit als auch durch die eigenen Fachkollegen.  

Ohne Ihre Frau und Ihre Familie wäre all dies so vermutlich nicht möglich gewesen. Sie sind seit 58 Jahren mit Karla verheiratet. Finden Sie Worte, die ihre Beziehung zueinander beschreiben?
JLE:  Ich bin mir dessen bewusst und sehr dankbar, dass ich immer noch mit meiner Karla verheiratet und glücklich bin. Ich störe mich aber manchmal an der Form der heutigen Diskussion über Gleichberechtigung. Man sagt, ich sei in einer sog. Macho-Kultur groß geworden, aber es war in einer Familie, wo das Sagen in der Familie die Oma, die Mutter und die Tante hatten. Das war die Realität. Nicht der Vater, nicht der Großvater, sondern die Frauen hatten Zuhause das Sagen. Bei einer Hochzeit oder einer Geburtstagsfeier zum Beispiel wurde dann eine Fassade errichtet: Die Frauen sind auf dem Weg immer einen Schritt zurückgegangen, die Männer einen nach vorne. Und bei den Feiern selbst wurde über das eine nicht geredet und zu dem anderen nichts gesagt… Aber auch das haben die Frauen zu Hause bestimmt und den Männern vorgegeben! 

Foto von José Luis Encarnação

Karla und José Luis Encarnação · Foto: © JL Encarnação

Karla und ich haben eine gelebte und gleichberechtigte Aufgabenteilung. Meine Frau hat akzeptiert und auch gewollt, dass ich arbeite und das Geld verdiene, während sie sich um die Familie und die Erziehung der Kinder kümmert. So war unser Familien-Leben aufgeteilt. Wir haben immer eine glückliche Ehe gehabt, mit allen Ups and Downs, die man in einer Ehe halt so hat. Wir sind heute immer noch glücklich zusammen, und ich weiß: »Hätte sie nicht die Erziehung unsere Kinder, die ich über alles liebe, so übernommen und mir dadurch auch vieles vom Hals gehalten, hätte ich meinen Weg nicht so geschafft.« Weil sie mir den Rücken freigehalten hat, war ich immer in der Lage, das zu leisten, was der Beruf von mir sehr intensiv verlangte. Das erkenne ich an und bedanke mich bei ihr dafür. Und das weiß sie auch…

Sie vergessen arme Menschen nicht und versuchen bereits während Ihrer Schulzeit, deren Not zu lindern. Was sind Vicentinos?
JLE: São Vicente ist ein Heiliger, der sich um die Armen gekümmert hat. In der Schule gab es eine Gruppe von Schülern, die sich zusammen mit einigen Priestern der Salesianer um die Armen gekümmert hat. Sie nannten sich die Vicentinos. Ich kam selbst aus einfachen Verhältnissen. Wir waren zwar auch arm, aber im Kontext wirklicher Armut waren wir schon fast in der Mittelklasse. Meine Oma hat als eine Köchin in einer sehr reichen spanischen Familie gearbeitet. Zu der Zeit gab es in Cascais und Estoril etwas,  das es, glaube ich, auch heute noch gibt: Am Samstag schwärmten Menschen aus und gingen bettelnd von Haustür zu Haustür. Meine Oma hat immer gesagt: »José Luis, das sind nicht die wirklichen Armen. Die richtigen Armen schämen sich, arm zu sein und zeigen es nicht. Wenn du ihnen helfen willst, muss du selbst zu ihnen gehen und herausfinden, was sie wirklich brauchen für ihr Leben.« Als sich diese Gruppe bei den Salesianern gebildet hat, habe ich mich ihr angeschlossen. Und dann sind wir losgezogen, zu Menschen, die unter einem Baum geschlafen haben, weil sie keine Wohnung hatten, oder sogar unter einer Plane lebten und haben versucht herauszufinden, was sie dringend brauchen. Dann sind wir dafür selbst betteln gegangen, von Haus zu Haus in Estoril und Cascais, um so von den Reichen Geld und Spenden zu bekommen, die wir dann, beispielsweise zu Weihnachten oder Ostern, an die Armen weiter verteilt haben. Die Dankbarkeit dieser Menschen habe ich nie vergessen. Diese Freude, etwas zu bekommen, worum sie nicht gebeten haben, aber was sie wirklich brauchten! Das hat mein Leben und auch mein Sozialverhalten beeinflusst. Ich habe dies einige Jahre gemacht, bis ich dann nach Deutschland gegangen bin. 

Das ist das, was mich bei den Salesianern so beeindruckt hat: Ich bin nicht nur zu einem guten Schüler geworden, ich habe auch aktiv im Theater gespielt und war ein ganz guter Schauspieler. Ich habe darüber hinaus intensiv Rollhockey gespielt, nicht nur in der Schulmannschaft, sondern auch bei einem Club in der Bundesliga, nämlich bei den Junioren des Hockeyclubs von Cascais. Ich habe auch bei der Schulzeitung mitgemacht und eine kleine Bar mit eingerichtet, damit wir unsere Freizeit gestalten konnten , ohne viel Geld auszugeben, da wir selbst eingekauft haben. Ich war also sehr umtriebig und aktiv. Ich habe aber auch ein soziales Profil bekommen, nicht von den Salesianern erzwungen, sondern auf die sanfte Art und Weise. Sie haben uns machen lassen, und so sind wir auf viele Dinge von selbst gekommen. Ich weiß, dass ich keine reiche Familie hatte, aber auch, dass es viel ärmere Menschen gibt. Ich habe mich nie so gefühlt wie: Ich bin da oben, die anderen sind da unten, ich bin der Professor, der ist der Student, ich bin der Chef, der ist der Mitarbeiter. Dieses autoritäre Hierarchie-Denken passt nicht in mein soziales Modell. Wir sind alle Menschen, die sich alle brauchen und gegenseitig respektieren müssen. Jeder hat seinen Platz und seine Funktion in unserer Gesellschaft. Diese, meine Denkweise ist nach meiner Überzeugung das Ergebnis als Schüler bei den Salesianern, aber auch durch meine Arbeit bei den Vicentinos. Und ich habe durch die Arbeit bei den Vicentinos wirklich sehr viel Armut und Elend gesehen… 

Sie sagen, wenn man arm geboren sei, führe der einzige Weg nach oben über Bildung, Ausbildung, harte Arbeit und viel Ehrgeiz. Geht nicht gibt es für Sie nicht. Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied?
JLE: Ich habe ja bei meiner Oma gewohnt, die für eine sehr reiche spanische Familie gearbeitet hat. Ich sage immer aus Spaß: Ich hatte alle Voraussetzungen, um Kommunist zu werden. Ich müsste als Heranwachsender in der Pubertät eigentlich sagen: Guck mal die Reichen, du hast dies nicht und das nicht, und sie haben alles. Ich müsste eigentlich eine Art Revoluzzer werden. Wenn man zwischen sechs und zwölf Jahre alt ist und Fußball auf der Straße spielt, sagt man nicht, du bist König, du bist Prinz, du bist arm, du bist reich. Das spielt in dem Alter alles überhaupt noch keine Rolle; ich habe z.B. sogar mit Juan Carlos, dem späteren König von Spanien, auf der Straße gespielt. Als wir zwischen 10 und 15 waren, sind wir alle am Strand denselben Mädchen hinterher gelaufen. Durch den Wunsch, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, hätte ich damals eigentlich auf die Idee kommen können, Kommunist zu werden, weil ja eigentlich alle Menschen gleich sein sollen. Aber ich kam nicht auf diese Idee, weil ich wusste und fühlte, dass es eine solche pauschale Gleichheit aller in der Realität so nicht geben kann. »Die Welt ist nun mal nicht flach!« Ich wusste nicht warum, aber ich habe es gefühlt, dass ich es trotzdem nach oben schaffen kann. Ich war ein besserer Schüler als viele Kinder der reichen Familien, die meine Freunde waren. Ich merkte, dass ich plötzlich durch meine Leistungen interessant für andere war, und zwar nicht, weil meine Eltern etwas hatten, sondern weil ich ein guter Schüler und ein guter Rollhockey-Spieler war, über den gesprochen wurde. Plötzlich habe ich gemerkt, dass ich mit Leistung und Ehrgeiz etwas schaffen konnte, und dass die Bereitschaft, mich für etwas zu quälen, mich auf das soziale Niveau derer bringt, die Geld haben. Diese Überzeugung hat mich fürs Leben geprägt!

Fotos von José Luis Encarnação

J. L. Encarnação als Kind an der Costa do Sol, Student in Berlin und Professor in Darmstadt · © Fotos: JL Encarnação

Diese Einstellung zur Leistung wurde von den Salesianern stark gefördert und unterstützt. Ich habe später, als es am 25.4.1974 die Nelkenrevolution gab und Caetano und Salazar gestürzt wurden, mit führenden Kommunisten aus der Gegend lange Diskussionen im Café in Estoril gehabt, weil ich vieles nicht richtig fand, was und wie sie es sagten und wollten. Wir waren im selben Alter und ehemalige Schulkollegen. Ich habe denen trotzdem aus Überzeugung widersprochen und gesagt: »Wenn wir alles so machen wie ihr denkt und wollt, dann werden wir anstatt einer von Reichen dominierten und geprägten Gesellschaft, eine ›Gesellschaft der Funktionären‹werden…« Ich war aber für eine soziale Gesellschaft, die vom Leistungsprinzip geprägt und getragen sein sollte.

Als ich Berlin ankam, waren wir zu zweit, J.M. Carneiro und ich. Wir kannten uns von der Schule und waren nun in Berlin. Er hatte in Portugal eine Stewardess von der Lufthansa kennengelernt, zu der er dann gegangen ist. Ich stand ganz alleine am Ku’damm und fragte mich: »Was machst du jetzt?« Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ich eine Bleibe brauche. Das Geld für einen längeren Aufenthalt im Hotel hatte ich nicht. Auf welche Idee bin ich in dieser Situation gekommen? Ich habe im Telefonbuch geschaut, ob es Salesianer in Berlin gibt. Es gab Salesianer, und ich habe sie dann sofort angerufen und um Hilfe gebeten. Ich habe ihnen meine Geschichte erzählt, aber ich weiß bis heute nicht, ob sie in Estoril angerufen haben, um sich über mich zu informieren oder nicht. Ich bekam aber kurze Zeit danach einen Anruf von den Salesianern in Berlin. Sie haben mir angeboten, in einer Wohnung unter dem Dachboden für 4–6 Wochen bei ihnen unterzukommen. Ich hatte dadurch meine Bleibe, mit Bett,  einem Tisch und zwei Stühlen. 

In der Not, auch in der Ferne, habe ich sofort nach Hilfe bei den Salesianern gesucht! Das zeigt, welche Bedeutung und welchen Stellenwert die Salesianer für mich hatten und immer noch haben. Ich bin den Salesianern dankbar und weiß, dass die letzten 60 Jahre ohne sie für mich nicht so gelaufen wären, weil ich als Mensch anders geworden wäre. Damals in der Salesianer-Schule in Estoril haben die Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule gefahren haben, mich, der im Kittel zu Fuß kam, indirekt mitfinanziert. Das hat mein Denken geprägt! Die »Leistungsbestie« ist geprägt worden in dieser Zeit, wo ich zu mir selbst gesagt habe: »Die packst du!« Die hatten alles, und ich wollte das auch. Aber alles – das haben mir die Salesianer eingeprägt – muss über Leistung gehen. Geschenkt kriegst du es nicht!

Eine Leistungsbestie findet vermutlich nie zur Ruhe. Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
JLE: Durch die Corona-Pandemie wurde einiges schwieriger, weil man für sich selbst Projekte anlegen muss, um sich zu Hause sinnvoll zu beschäftigen. Das Buch über mein Leben war so ein Projekt. Ich bin weiterhin als Berater gefragt, arbeite für die portugiesische Regierung und helfe mit, eine Art Fraunhofer Gesellschaft in Portugal aufzubauen, die CoLABS. Ich mache einiges in Spanien und in Brüssel, nicht mehr so viel wie früher, aber ab und zu will immer noch jemand meine Meinung hören und von meiner Erfahrung profitieren. Aber einen Typen wie mich, der es gewohnt ist, sehr intensiv 10–12 Stunden am Tag zu arbeiten, erfüllt ein solches Leben nicht, zumindest nicht sieben Tage in der Woche. Ich bin auch nicht der Mensch, der sich stundenlang vor den Fernseher setzt und sich berieseln lässt. Ich gucke zwar gerne Sport, politische Talk-Shows und Nachrichten, aber das war’s denn auch schon. Ich habe einige Projekte im Kopf, ich bin weiterhin hier und dort beratend tätig, auch für mein altes Institut. Ich halte mich aber beim IGD operativ heraus, denn ich will meinem Nachfolger natürlich nicht in die Suppe spucken. Er ist der neue Chef und soll alles machen, was und wie er es will. Wenn er mich braucht, meldet er sich. Ich helfe, wo ich kann und bin für das IGD so etwas wie der Scout, der Horcher in den Wald, auch ein Beschaffer von Ideen und Verbindungen.

Wenn Corona vorbei ist, werde ich wieder mehr reisen müssen und wollen. Aber auch bei mir beginnen selbstverständlich die Erscheinungen, die mit dem Alter kommen, so z.B. ein paar Schwierigkeiten beim Laufen und beim Atmen auf längeren Strecken. Ich arbeite mit, wenn ich gefragt werde und solange ich den Eindruck habe, dass das, was ich liefere, auch sinnvoll ist und gebraucht wird. Ich bin der Meinung, dass alles was ich in Zukunft tue, ein Prozess ist, mit einem Anfang und einem Ende. Ich kann für den Anfang sorgen, ich kann während des Weges mein Wissen und meine Erfahrung nutzen und zur Verfügung stellen, um mitzureden und mitzugestalten, aber ich kann altersbedingt kein Ende mehr garantieren. Und das muss ich zur Kenntnis nehmen. Ich möchte keine Verantwortung übernehmen für etwas, was ich nicht mehr zu Ende führen kann, weil dies nicht mehr in meiner Hand liegt. 

Professor Encarnação, ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft und alle Projekte, die dort anstehen, viel Erfolg, alles erdenklich Gute und sage »Herzlichen Dank für dieses angenehme Gespräch«.

Weitere Informationen über José Luis Encarnação

Interview mit DPG-Schatzmeisterin Gabriele Baumgarten-Heinke

Mit einem Lächeln: Interview mit Gabriele Baumgarten-Heinke über ihre Lebensgeschichte und die Zukunft der DPG    Fragen von Andreas Lahn

> PORTUGAL REPORT: Das Weihnachtsfest mit dem leckersten ­Essen hast du im Jahre 2000 in Portugal erlebt. Erinnerst du dich?
Gabriele Baumgarten-Heinke: Das war das erste gemeinsame Weihnachtsessen mit Harald Heinke, nachdem wir zusammengezogen sind. Wir sind in Portugal gewesen und am 24.12. von der Algarve nach Lissabon gefahren. Er wollte mir alles in Grândola zeigen, was mit der Nelkenrevolution zusammenhängt. Auf der Weiterfahrt war Stau, es goss in Strömen und als wir gegen 19 Uhr Hunger hatten, haben wir in einer Raststätte gegessen, mit drei vier alten Männern, die sich gefragt haben, was die denn hier machen. Wir haben ein KäseBaguette gekriegt. Ich wusste in dem Moment nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Aber das ist auch ein Stück Harald. Ich habe mich im Zusammenleben mit ihm daran gewöhnt, dass es Dinge gibt, die Vorrang haben wie z. B. die DPG und seine Arbeit. Wir haben das Festessen am 25.12. nachgeholt.

Gibt es für dich einen Lieblingsort in Portugal − vielleicht die Insel Madeira?
Wir haben auf Madeira viele Wanderungen an den Levadas entlang macht. Das viele Grün hat mich beeindruckt. Aber einen speziellen Lieblingsort habe ich nicht. Ich mag auch Lissabon, Porto die Algarve. Ich finde Portugal insgesamt und die Menschen einfach faszinierend. 

Du bist ja 1955 in Guben in der ehemaligen DDR geboren. Welche Erinnerungen hast du an das Leben dort?
Da mag jeder unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Was mich traurig macht, ist, dass die DDR häufig auf Mauer und Staatssicherheit reduziert wird. Ich hatte eine ganz normale Kindheit. Für mich gab es Geborgenheit und Sicherheit durch die Familie. Wir haben gelacht und uns gefreut, wir sind zur Schule gegangen. Erst Ende der 1980er Jahre mit den großen Demonstrationen bin ich auf die Staatssicherheit (Stasi) aufmerksam geworden. Mir war vorher nicht bekannt, was in den Gefängnissen passiert ist oder dass Frauen die Kinder weggenommen wurden. Meine Kindheit möchte ich nicht missen. Ich hatte eine schöne Kindheit. 

Drei Töchter durch das Leben zu begleiten ist nicht gerade einfach. Wie siehst du das?
Meine Töchter sind zu Freundinnen geworden. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Die eine lebt in Zürich und zwei in Dresden. Alle habe eine gute Ausbildung und haben Familien gegründet. Die Beziehung zu ihnen, unser Zusammenhalt, auch zu meinen Enkeln, ist für mich eine große Freude.

Du hast in der DDR als Lehrerin gearbeitet. Welchen Stellenwert hatte der Beruf? Und warum hast du aufgehört als Lehrerin für Russisch und Geschichte zu arbeiten?
Meine Töchter sind immer mal wieder abwechselnd krank geworden. Ich bin dadurch ab und zu ausgefallen und habe viel Druck gespürt nach dem Motto: »Hier warten 30 Kinder auf Sie, und Sie haben nur zwei.« Ich konnte die beiden ja nicht an der Garderobe abgeben. Das war für mich der Grund, die Volksbildung zu verlassen, was natürlich nicht einfach war.

Ein Schlüsselerlebnis sozusagen?
Ja, genau. Ich brauchte die Hilfe eines Arztes, um aus der Volksbildung ausscheiden zu können. Durch die Sprachausbildung in Russisch habe ich bei der IHK Zertifikate als Reiseleiterin/Dolmetscherin gemacht und dann in der DDR Reisegruppen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin, Erfurt, Leipzig, Dresden begleitet. Das hat mir damals sehr viel Spaß gemacht.

Du bist Inhaberin des Reiseunternehmens i-Punkt in Dresden gewesen. Wie hast du das Ende der DDR erlebt und warum hast du das Reisebüro aufgegeben?
Das war eine spannende Zeit. Ich war keine, der man vorgeben musste, was sie zu tun und zu lassen hatte. Man musste sich einen Platz suchen und die Frage beantworten: Was will ich, wo gehöre ich hin? Ich war bei der Dresden-Information und hatte das große Glück, dass Hamburg und Salzburg Städtepartner von Dresden waren. VertreterInnen dieser beiden Städte sind auf uns zugekommen und haben nach Möglichkeiten gesucht, uns touristisch zu unterstützen. Wir haben  ins Salzburger Land einen Bus-Pendelverkehr aufgebaut. Auf der Straße war eine lange Schlange, so dass man dachte, es gäbe Bananen. Aber die Leute wollten alle diese Reisen kaufen. Doch dann hat die Stadt Dresden gefordert, diesen »Reisedienst der Stadt Dresden« abzuwickeln, weil Reisebüros nach westdeutschem Recht nur privat sein dürfen. Ich habe beschlossen, das Reisebüro zu privatisieren. Das war mutig, weil wir von der großen weiten Welt nicht viel Ahnung hatten. Auch mit Computern und den Programmen mussten wir lernen umzugehen. Ich war auf vielen Lehrgängen, habe das Ausstellen von Flugtickets (Ticketing) und auch das Buchen selbst gelernt. Eines Tages stand ein Kunde im Reisebüro und will zum Popocatépetl. Ich dachte: Will er was zu essen oder was meint er? Am Anfang wussten Kunden, die ganz gezielt irgendwo hinwollten, mehr als wir. Wir haben sie gefragt, warum sie dann gerade da hin wollen. Dann haben die Leute erzählt und wir wussten, welchen Katalog wir ihnen mitgeben konnten. Ich war seit 1990 Mitglied des Deutschen Reiseverbandes (DRV), genau das Unternehmen, bei dem ich 2019 mein Arbeitsleben beendet habe. 1996 sollten wir für das Reisebüro eine 300 Prozent höhere Miete zahlen. Da es mittlerweile viele Reisebüros gab, war der Markt schon aufgeteilt und das Risiko an einem neuen Standort zu groß. Ich habe sechs Jahre die freie Marktwirtschaft ausprobiert und genoss in den folgenden Jahre die Vorteile des Angestelltendaseins. Ich bin dann Büroleiterin eines FIRST-Reisebüros in der Dresdener Neustadt geworden. 

Foto der nächtlichen Silhouette von Dresden

Blick auf das nächtliche Dresden · Foto: © Felix Mittermeier auf Pixabay

Das wäre ja cool für die DPG, selbst Reisen nach Portugal zu organisieren, zumal du nach etlichen Jahren in verschiedenen Unternehmen der Reisebranche über ausreichend Erfahrung verfügst?
In diesem FIRST-Reisebüro tauchte einens Tages ein Herr Heinke als Direktor von OLIMAR auf und sagte: »Ihr Umsatz bei OLIMAR lässt aber schon zu wünschen übrig.« Ich habe dann gekontert und geantwortet: »Ich weiß zwar, wo Portugal liegt und dass Lissabon die Hauptstadt ist, aber ich war noch nie dort.« Er hat mich dann auf eine Info-Reise mitgenommen, mir Orte und einige Hotels gezeigt, so dass ich danach Reisen nach Portugal ganz anders verkaufen konnte. Und − wie es so seine Art ist − hat er mir einen Zettel hingelegt und gesagt, ich könne dann ja auch gleich Mitglied der Deutsch-Portugiesischen Gesellschaft werden. Das war 1998. Ich sollte dann auch gleich die Stadtsektion Dresden übernehmen, was ich auch gemacht habe, obwohl andere Mitglieder natürlich mehr über Portugal wussten als ich.

Das ist ja jetzt 23 Jahre her. Was hat sich aus deiner Sicht im Laufe der Jahre in der DPG verändert?
Ich habe ja noch den damaligen Präsidenten Peter Neufert kennenlernen dürfen und war bei vielen Veranstaltungen dabei. Ich glaube, damals ist der Enthusiasmus größer gewesen als heute. Es gab mehr aktive Leute, auch in den Landesverbänden. Wenn ich an die Urgesteine der DPG denke, kam von denen sehr viel Energie. Man hat sich häufig gesehen, es gab regelmäßige Präsidiumssitzungen. Dann hat Harald das Amt als Präsident übernommen. Er hat das super gemacht und konnte seine ganzen Kontakte in alle lusophonen Länder und viele Vereinigungen in die DPG einbringen. Vielleicht hat er einigen Leuten sogar zu viel Arbeit abgenommen. Im Moment ist es eher so: Wenn nichts vom geschäftsführenden Vorstand angeschubst wird, hört man zu Corona-Zeiten doch sehr wenig von den Landesverbänden. Das macht mir auch ein wenig Sorgen, muss ich gestehen.Manchmal stelle ich mir die Frage: Schläft durch Corona alles ein oder was passiert hier gerade? 

Du bist Schatzmeisterin in der DPG. Wie ist der Verein für die Zukunft aufgestellt? Stimmen die Finanzen?
Nicht nur die DPG, sondern Vereine ganz allgemein haben in Deutschland mit vielen  Problemen zu kämpfen. Deshalb haben wir uns ja im Juni 2021 zum Strategie-Workshop getroffen. Die Mitgliederzahlen sinken und viele der langjährigen aktiven älteren Mitglieder fallen irgendwann einmal weg. Mehr Mitglieder zu akquirieren und einzubinden, bleibt aus meiner Sicht schwierig. Weniger Mitglieder heißt auch weniger Beitragseinnahmen. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn wenn weniger Geld zur Verfügung steht, kann man auch weniger machen. Und wenn wir weniger machen, können wir weniger Leute von der DPG begeistern. Ich habe mich gefreut, dass über deine Spendenaktion Geld reingekommen ist, was uns mehr Rückhalt gegeben hat. So steht als Ergebnis des letzten Jahres ein schönes Plus. Man muss das Ganze aktiv halten, sonst schläft irgendwann alles ein.

Durch die Pflege des langjährigen Präsidenten der DPG, Harald Heinke, zu Hause hat sich dein Leben verändert. Wie kommst du mit den Anforderungen zurecht?
Das war eine schwierige Situation. Seine Krankheit kündigte sich bereits 2014 und auch 2016 an. Aber damals konnte ich noch arbeiten gehen. Er hat versucht, das Beste daraus zu machen und ist mit dem Rollator gegangen. Schon damals hat mir der Pflegedienst geholfen. Im März 2019 musste ich dann in zehn Tagen entscheiden, ob er ins Pflegeheim soll oder ob ich ihn zu Hause pflege. Ich hätte damals ­eigentlich noch zwei Jahre arbeiten müssen. Diese Situation stülpt das Leben von jetzt auf gleich um. Da er Pflegegrad 5 hat und die Krankheit fortschreitet, habe ich beschlossen, meinen Beruf aufzugeben. Ich kenne mich gut mit dem Computer aus und stelle fest, dass es in diesem Land unendlich viel Hilfe gibt, wenn jemand krank ist. Ich habe jetzt drei Pflegedienste im Einsatz und muss trotzdem nichts zuzahlen. Man muss viel recherchieren über Webseiten wie pflegehilfe.de und andere. Mit der Hilfe komme ich selbst gut zurecht. Nach zwei Jahren werde ich oft von anderen Pflegenden um Rat gebeten. Doch mit 18 Pflegeterminen pro Woche bleibt für mich selbst wenig Freizeit.

Foto von Gabriele Baumgarten-Heinke im Schlosspark Niederschönhausen

Gabriele Baumgarten-Heinke im Schlosspark Niederschönhausen · © Foto: privat

Beim Walken in der Natur versuchst du abzuschalten. Wohin gehst du?
Oftmals hier um die Ecke in die Gartenanlage, aber lieber in den Schlosspark Niederschönhausen. Das Schloss dort ist ja der Sitz der früheren DDR-Regierung. Ich gehe nicht deshalb dorthin, sondern weil da ein wunderschöner Park ist. Da fließt die Panke durch, und für mich ist das dann der Moment in der Natur, um abzuschalten und was für mich zu tun.

Zur Entspannung praktizierst du Yoga. Hast du dafür genug Zeit?
Ich gehe Donnerstags zum Vereinssport. Wir machen leichte Übungen wie Stretching, und Yoga. Manchmal fühle ich mich vorher kaputt, aber ich raffe mich dann auf, weil ich weiß, dass mir das sehr viel Energie gibt. Die Sportgruppe ist auch ein Treffen von FreudInnen.

Du betreibst Ahnenforschung. Wie weit lässt sich der Stammbaum zurückverfolgen?
Bisher noch nicht so weit. Ich habe aber herausgefunden, dass der Großvater meiner Mutter im ersten Weltkrieg verschollen ist, in Frankreich. Ich weiß, dass sein Grab noch existiert und wo es ist. Ich finde es spannend, wenn man plötzlich Post bekommt und dann weiß, wer die Vorfahren sind und wo sie abgeblieben sind. Das macht richtig viel Spaß.

Warum bist du damals von Dresden nach Berlin gezogen?
Ich bin aus Liebe zu meinem Mann Harald Heinke nach Berlin gezogen. Ich war eine eingefleischte Sächsin. Zu DDR-­Zeiten gab es einen Kleinkrieg zwischen Dresden und Berlin. Viele Gelder sind nach Berlin geflossen, weil Berlin als Schaufenster der DDR ausstaffiert werden sollte. Als Marzahn gebaut wurde, sind auch Arbeitskräfte abgezogen worden. Doch durch den Einsatz einiger engagierter Menschen sind zum Aufbau von Semper-­Oper, Zwinger etc. auch einige Gelder nach Dresden geflossen. Auch beim Fußball gab es eine große Konkurrenz: Dynamo Dresden und Union Berlin waren nicht die besten Freunde. Berlin war nie der Traum meines Lebens. Doch als ­Harald zu mir sagte, wir sollten schon zusammenleben, bin ich spontan hierher gezogen. Ich hatte ein wenig Scheu und habe mich gefragt, ob die Berliner mich als Sächsin akzeptieren. Doch das war einfacher als gedacht. Berlin ist so Multikulti, hier leben Sachsen und Schwaben, man trifft überall interessante Menschen. Es ist viel menschlicher und herzlicher als ich es mir vorgestellt habe.
Das Multikulti der Menschen ist sehr angenehm. Ich mag auch die Vielfalt in der Kultur. Und trotz der Größe gibt es in Berlin viele grüne Oasen. Hier um die Ecke in Wedding ist der Plötzensee. Du kannst mitten in der großen Stadt im See schwimmen gehen. Es gibt viele große Parks, und einige Kilometer weiter wird jetzt das Moor renaturiert. Ich finde das alles unglaublich. Das Leben in Berlin ist schön, aber ich wohne ja auch nicht ganz mittendrin. Trotzdem bin ich schnell im Zentrum. Das Leben in den vielen Kiezen ist ganz anders als in Berlin-Mitte.

Magst du Museen?
Ja, vor allem die historischen Museen auf der Museumsinsel. Ich bin unheimlich gerne im Pergamon-Museum. Obwohl ich schon x-mal dort war, fasziniert es mich immer wieder. Ich bin auch gespannt, was es im Humboldt Forum, im Berliner Schloss, zu sehen gibt. Das will ich mir in diesem Jahr angucken. Ich bin auch mal im Dom auf den Turm gestiegen. Der Blick über die Stadt ist auch sehr schön .

Toleranz und Optimismus sind dir wichtig. Außerdem möchtest du die Welt besser machen. In Zeiten von Corona gewinnt dein Lebensmotto an Bedeutung: »Wir haben nur das eine Leben.«
Genau so ist das! Wenn Menschen sich mit einem Lächeln begegnen, wenn man aufeinander zugeht und miteinander redet,  läuft alles freundlicher und schöner. Jetzt sind Wahlen. Ich kann es einfach nicht verstehen zu sagen: »Das bringt nichts. Ich gehe da nicht hin!« Eine Politikverdrossenheit bringt uns nicht voran. Aber was tun diejenigen denn? Es gibt sicher keine Partei, die zu 100 Prozent die Wünsche eines jeden einzelnen umsetzen kann. Dazu sind die individuellen Vorstellungen Menschen viel zu verschieden. Aber einfach mal in die Programme der Parteien schauen, sich damit auseinandersetzen und dann entscheiden, was für einen wichtig ist. Für mich ist soziale Gerechtigkeit wichtig. Dazu gehören u. a. Mindestlöhne, der Kampf gegen Kinderarmut, den Pflegenotstand stoppen und gerechte Renten. Wichtig sind mir auch die Stärkung der Demokratie, die Klimagerechtigkeit und der Stopp von Rüstungsexporten.
Ich bin der Meinung, dass diese Erde, dass die Natur den Menschen loswerden will, und sagt: »Es reicht! Ihr Menschen habt alles kaputt gemacht, jetzt wehren wir uns!« Die Auswirkungen spüren wir alle, sie sind nicht zu übersehen. Und deshalb müssen wir viel mehr tun, um die Natur zu retten und auch unseren nachfolgenden Genera­tionen die Chance einräumen, auf dieser Erde ein schönes und friedliches Leben zu haben. 
Und im Alltag bedeutet dies, einfach ein bisschen aufeinander zu achten, miteinander zu reden, die Natur zu respektieren und mit einem Lächeln durchs Leben zu gehen. Dann geht vieles einfacher, leichter und schöner.

José Luis Encarnação: Aus dem Leben einer Leistungsbestie

Foto von José Luis Encarnação in seinem Arbeitszimmer

Episoden aus Leben und Karriere von DPG-Mitglied José Luis Encarnação in Deutschland    von Andreas Lahn

> Als ich im hessischen Reinheim ankomme, spüre ich schon, dass besondere Stunden vor mir liegen. Professor Encarnação wohnt seit 1975 dort mit seiner Frau Karla und hat am 29.5.2021 seinen 80. Geburtstag gefeiert. Den Link zum Interview finden Sie am Ende des Artikels.

CAPARIDE / ESTORIL
José Luis da Encarnação wird 1941 in Caparide 20 Kilometer westlich von Lissabon geboren. Er geht in Estoril zur Schule, in der die meisten Lehrer Priester sind, Salesianer. Der monatliche Beitrag ist leistungsabhängig zu entrichten. Da Prof. Encarnação aus armen Verhältnissen kommt, das Geld also knapp ist, wusste er, dass er sich anstrengen muss, weil sein Vater die Schule sonst nicht bezahlen kann. Er hat schnell gelernt, dass ihm nichts geschenkt wird. Mit diesem Bewusstsein wird er zu einem guten Schüler und exzellenten Rollhockey-Spieler: »Die Priester haben uns zu Leistungsmenschen geformt. Wir mussten etwas leisten, um unseren Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden.«
Da Prof. Encarnação auch gut in Mathe­matik und Physik ist, empfehlen ihm die Salesianer am Ende der Gymnasialzeit, das Studium der Elektrotechnik, möglichst im Ausland, um Erfahrungen zu sammeln und eine weitere Sprache zu lernen. 

BERLIN
Die Entscheidung fällt auf Deutschland, und so kommt er zusammen mit seinem Kommilitonen José Manuel Carneiro 1959 in Aachen an. Nach zwei Praktika und einem Umweg über Hamburg fahren die beiden schließlich nach Berlin, wo sie am 13.8.1961 einen Schock kriegen. Mitten durch die Stadt wird eine Mauer gebaut. Als er diese Nachricht im Radio hört, zweifelt er zunächst an seinem Deutsch, doch als er einem anderen Mieter und seiner aus Ostberlin stammenden Freundin davon erzählt, geht alles sehr schnell: Sie fahren gemeinsam zum Brandenburger Tor und sprechen die Westberliner Polizei an, die sagt: »Wenn Sie jetzt rübergehen, müssen Sie auch dort bleiben.« Die Frau muss sich also in wenigen Minuten entscheiden, ob sie bei ihrer großen Liebe bleibt oder nach Ostberlin zurückgeht, um ihre pflegebedürftige Mutter zu unterstützen. Diese kleine Episode zeigt, welche persönlichen Auswirkungen Grenzen und Mauern in dieser Welt haben können. 
Als die Mauer 1989 fällt, sitzt Prof. Encarnação im Auto, hört die Nachricht auf Französisch und zweifelt an seinen Sprachkenntnissen. Als er nach Hause kommt, sitzt seine aus Berlin stammende Frau Karla weinend auf der Couch und starrt gebannt auf den Fernseher und die Berichte über die gefallene Mauer. Für ihn ist klar: »Die Mauer hat einen emotionalen und ganz festen Platz in meiner persönlichen Geschichte.« 
Im Wintersemester 1961/1962 beginnt J. L. Encarnação das Studium der Elektrotechnik an der TU Berlin und lernt in diesem Jahr »seine« Karla kennen, die er 1963 im kleinen Kreis heiratet und mit ihr in den nächsten zwei Jahren zwei Söhne zeugt. Doch bei der »Studenten-Hochzeit« fehlen Kutsche und Hochzeitstorte, Dinge die sich Studenten normalerweise eben nicht leisten können. Da diese eher »bescheidene« Hochzeit im Laufe der Jahre immer mal wieder Thema zwischen den beiden ist, denkt Prof. Encarnação »Dir werde ich es zeigen!«, arrangiert eine riesige Überraschung zur Goldenen Hochzeit im Jahre 2013 und holt in diesen Tagen alles  nach, was 1963 fehlt: Mit seinen Söhnen und deren Frauen feiern sie im Restaurant, in der Kirche, buchen eine Abendveranstaltung, essen eine riesige Torte und lassen sich in einer Kutsche herumfahren. Alle sind begeistert, zufrieden und das »Thema« ist damit für immer vom Tisch.
Als J. L. Encarnação sein Studium 1968 als Diplom-Ingenieur abschließt, will er eigentlich nach Portugal zurückkehren, doch dann erhält er mit viel Glück ein Stipendium der Gulbenkian-Stiftung für Promotionen im Bereich Technik- und Ingenieurs-Wissenschaften im Ausland. Ohne dieses Stipendium wäre sein ganzes Leben komplett anders verlaufen. Doch so findet er mit Prof. Giloi einen Doktorvater, der ihn am Heinrich-Hertz-­Institut dankbar als Doktoranden aufnimmt, denn er bringt sein Geld schließlich mit und ist somit eine kostenlose ­Arbeitskraft. Sein Thema sind Visualisierungs-Techniken am Computer, also die Frage: Wie bringt man dem Rechner bei, aus seinen unendlichen Zahlenkolonnen Bilder am Monitor so darzustellen, dass das »Augentier« Mensch damit etwas anfangen kann? Nach der erfolgreichen Promovierung 1970 arbeitet er noch zwei Jahre in Berlin, bevor er 1972 seinem Doktorvater Prof. Giloi folgt und als sein Assistenz-Professor im Bereich Computer Graphics nach Saarbrücken geht.

DARMSTADT / REINHEIM
1975 folgt er dem Ruf der TU Darmstadt, wo er einen von Professor Piloty im Rahmen des ÜRF Informatik an der TU geschaffenen Lehrstuhl für Computer Graphics erhält. Das Fach ist im Fachbereich Informatik angesiedelt, die an den deutschen Hochschulen zwischen 1968 und 1975 etabliert wird. Was heute alles wie selbstverständlich am Display erscheint, hat also einen langen Forschungsweg hinter sich. Prof. Encarnação beschreibt Computer Graphics so: »Computer Graphics beschäftigt sich mit allem, was gerätetechnisch, in Hardware und Software notwendig ist, um aus dem digitalen Rechner ein Instrument zu machen, das nicht nur Zahlen produziert, sondern diese in Bilder umwandelt, und den Menschen dadurch in die Lage versetzt, mit den Bildern zu interagieren. Und das selbstverständlich im Kontext einer bestimmten Anwendung.«
Für mich interessant, dass es Jahre und Jahrzehnte braucht, bis bestimmte Forschungsvorhaben in der Bevölkerung ankommen. Wir alle haben in den letzten Jahren Begriffe gehört wie virtual reality oder auch augmented reality, im Social-­Media-Bereich ist Storytelling zur Zeit in aller Munde. Die technischen Grund­lagen werden dafür bereits zwei Jahrzehnte vorher gelegt. Die rasant steigende Bedeutung der Informatik in der bundesdeutschen Gesellschaft lässt sich an einer einfachen Zahl ablesen: Als Prof. Encarnação in Darmstadt anfängt, hat er drei Mitarbeiter, einen Programmierer und eine Sekretärin an seiner Seite. Als er im Jahre 2009 emeritiert, arbeiten in diesem Fachgebiet 1000–1200 Leute!
Natürlich verschlingt Forschung auch viel Geld, zumal man am Anfang nicht sicher sein kann, dass am Ende auch etwas Brauchbares herauskommt. Und deshalb ist die Verzahnung mit der Industrie für ForscherInnen wichtig, denn ohne das Geld aus der Automobilindustrie und der Medizintechnik wären viele Projekte zur Erforschung und Vor-Entwicklung vieler Technologien, die heutzutage schon fast als selbstverständlich erscheinen und eine breite Anwendung finden, gar nicht denkbar.
Prof. Encarnação hat früh erkannt, dass bewegte Bilder eine zentrale Komponente in der technologischen Entwicklung sind. Er lebt nach dem Motto »Geht nicht gibt es nicht.« und weiß, dass es nicht reicht, neue Dinge nur zu wollen: »Man muss sie auch machen!« 
Als Direktor des Fraunhofer Instituts für Graphische Datenverarbeitung (IGD) hat Prof. Encarnação den OrganisatorInnen der Weltausstellung Expo 1998 in Lissabon vorgeschlagen, zusätzlich zum realen Oceanário ein virtuelles zu programmieren, das den Menschen in der Warteschlange vor dem Eintritt die Zeit vertreibt. Dadurch wird Computer Graphics auch in Portugal zum Thema und Prof. Encarnação als Experte ein gefragter Referent und Ansprechpartner.
Doch gerade der Unterhaltungsbereich stellt die Ingenieure vor immense Probleme. Das naheliegende Ziel ist, die Bedienung von Computern zu erleichtern und Eingaben über Bilder und Sprache zu ermöglichen statt über Text. Doch der Computer weiß nicht, wer vor ihm sitzt und deshalb komme es zukünftig primär darauf an, »über die künstliche Intelligenz lernfähige Algorithmen zu programmieren, die vom jeweiligen Nutzerverhalten lernen und sich entsprechend anpassen«. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis Bedienungsanleitungen verfasst werden, die für alle Menschen verständlich sind.

Foto von Karla und José Luis Encarnação

Karla und José Luis Encarnação · Foto: © J. L. Encarnação


Prof. Encarnação ist sich bewusst, dass die berufliche Karriere ohne die Mit­arbeit seiner Frau Karla nicht möglich gewesen wäre: »Ich bin mir dessen bewusst und sehr dankbar, dass ich immer noch mit meiner Karla verheiratet bin.« Und das nun schon seit 58 Jahren! Die Kinder sind aus dem Haus, die beiden leben in Reinheim, einem kleinen Ort in Hessen, der in der Nähe von Darmstadt liegt. Der Frankfurter Flughafen ist nicht weit weg. Er bezeichnet sich selbst als »Leistungsbestie«, weil das, was er in seinem Leben erreicht, nur mit einem großen Willen, viel Ehrgeiz, harter Arbeit und einer guten Ausbildung möglich ist.

AUSZEICHNUNGEN
Als Würdigung seiner beruflichen Karriere wird er mit Auszeichnungen überhäuft und erhält u. a. alle drei Bundesverdienstkreuze, den Hohen Orden des heiligen Jakob vom Schwert (Portugal) und etliche Medaillen, Preise und Ehrendoktorwürden. Wie jeder andere Mensch ist er natürlich stolz, aber nur, »wenn die Auszeichnungen eine Begründung haben«. Das ist ihm wichtig zu betonen, denn er will nichts geschenkt haben. Er freut sich über die Ehrendoktorwürde der TU Berlin und dass die Stadt Darmstadt ihn zum »Heiner« gemacht hat. Fachlich ist ihm die Auszeichnung von ACM Sigraph wichtig, die für ihn »eine Art Nobelpreis im Bereich Computer Graphics« ist. Als bescheidener Mensch möchte er mit diesen Preisen nicht angeben, sondern empfindet einfach nur Freude darüber.

ZUKUNFT
Als leistungsbereiter Mensch muss sich Prof. Encarnação nach seiner Emeritierung und Pensionierung umstellen, was seinen Arbeitsrhythmus angeht. Er hat noch Aufgaben in Deutschland, Portugal, Spanien und in Brüssel, schafft sich eigene Projekte und hat während der Corona-­Pandemie ein Buch über sein Leben geschrieben. Er ist nicht der Typ, der sich vor den Fernseher setzt, aber auf sein Alter Rücksicht nehmen muss: »Ich weiß, dass alles Zukünftige ein Prozess ist, mit einem Anfang und einem Ende. Ich kann für den Anfang sorgen, ich kann während des Weges mitgestalten, aber ich kann altersbedingt kein Ende garantieren. Und das muss ich zur Kenntnis nehmen. Ich möchte keine Verantwortung übernehmen für etwas, was nicht in meiner Hand liegt.«

Ich bedanke mich bei Prof. Encarnação für den wundervollen Nachmittag in Reinheim und wünsche ihm für seine Projekte Energie, Erfolg und Freude.

Lesen Sie bitte das ganze Interview mit José Luis Encarnação

Corona: Quo vadis, portugiesische Fröhlichkeit?

Foto zum Thema Corona-Impfung

Quo vadis, portugiesische Fröhlichkeit?

Ein Protokoll hinter der  Maske • von Ana Carla Gomes Fedtke und Eberhard Fedtke

> Wir leben in Isolation, lock-down auf Englisch. Es ist die reine Tristesse. Wir erledigen Dinge, welche seit Monaten aufgeschoben sind: öffnen Zeitschriften, welche noch in der Plastikverpackung stecken, schreiben mehr Erinnerungen in unser Tagebuch, streichen die Wand unseres Esszimmers, säubern das Innere unseres Autos, erneuern den Garten, beenden Reparaturen in der Garage. Machen alles ohne großartige Motivation. Es fehlen Originalität und Notwendigkeit. Illusorische Zuneigung ist es, angefüllt mit viel Zweigesichtigkeit. Was uns wahrhaftig fehlt, ist eine lebendige Außenwelt, die Feuerwerkskörper alle Wochenenden Woche für Woche im Sommer in den umliegenden Dörfern. Außer diesen inspirativen Festen fehlen uns die farbenfrohen Märkte, ihre Gerichte aus typisch portugiesischer Küche, naturbelassen und schmackhaft, alles unter dem penetranten Lärm von Folklore-Musik aus brutalen, aber angenehmen Lautsprechern. Es fehlt uns der Gesang der Motorboote auf dem Stausee unterhalb unseres Hauses, dem Stausee von Caniçada, uns fehlt der Ozean mit seiner intensiven Realität. Es gehen uns die ehrlichen Umarmungen und anregenden Küsschen unserer Freunde ab. Diese ganze Welt hat die Gestalt eines kannibalischen Traumas. Man kann nicht am öffentlichen Sport teilnehmen. Fußball in einem Stadion ohne Zuschauer ist wie eine Suppe ohne Salz und Gewürze. Das ganze Volk nimmt teil, jedoch auf Distanz. Die Erde frisst ihre Kinder auf, die Pandemie erfreut sich an ihren Leckerbissen. Immer mehr scheint das Land aus dem Leim zu gehen, auf allen sozialen Ebenen und in strukturellen Zusammenhängen, die Zivilisation strangulierend.
Wir verbringen schon die zweite dieser filigran schwierigen Quarantänen, doch selbst eine solche schmuckvolle Stille, derart ausgedehnt, bietet vielerlei Ähnlichkeit mit der sanften, friedlichen, wenn auch kühlen Atmosphäre eines Friedhofs, diese Anlagen, wie nie zuvor, en vogue. Wir machen von der Gelegenheit Gebrauch, über Whatsapp mit Familienangehörigen, Freunden, Kollegen zu sprechen, von denen einige verloren gegangen sind im autodidaktischen homeworking. Über Zoom nehmen wir an Konferenzen und Besprechungen teil, eine für Portugiesen, welche die Haut der anderen zu spüren und zu riechen benötigen, außerordentlich unpopuläre Sache. Mit ihnen kommunizieren wir auf Distanz, um zu erfahren, welche Perspektiven die anderen haben, welche intellektuellen Rezepte und welche praktischen Instrumente ihnen einfallen, um 24 Stunden über 24 Stunden in diesem hygienischen Gefängnis zu überleben, in Gemeinschaft mit einem unsichtbaren Feind, und wie sie die Zukunft sehen. Fürchten sie eine neue Welle eines lockdowns, eine weitere Mutation des superpotenten und ultraaktiven Virus? Und, sofern am Ende die Personen nicht nur ein Maske benutzen müssen, sondern außerhalb des Hauses einen vollständigen aseptischen Anzug, als betrachte sich die derzeitige Menschheit, ausnahmslos, auf einen Operationstisch der Geschichte gelegt? Kann es sein, dass die malträtierte Natur rigoros und hart reagiert, um die Spezies mit zwei Armen und zwei Beinen auszulöschen, welche fortgesetzt das Ambiente missachtet, ohne angemessene Würde und Solidarität mit anderen Lebewesen von Blut und Kopf ihre Reichtümer nutzt und ohne Scham Dekade für Dekade  ungezählte Tiere und Pflanzen eliminiert, Fauna und Flora zum Sterben verurteilt sind? Lamentiert vehement unsere Blumenfrau, dass der Virus schuld daran sei, dass es im Jahr 2021 es nicht genügend Zitronen gibt sowie Palmen in großen Mengen sterben. Etwas übertriebene Panik einer Alten oder profunde Sensibilität einer Prophetin, welche weitere Umweltkatastrophen vorhersagt?
Wir glauben nicht den spekulativen Versprechungen sowie dilettantischen Ausstrahlungen von Fernsehen, Radio und anderer blinder Presse, deren Anliegen es ist, monoton die falsche Analyse eines einfachen Interims in dieser gestörten Welt zu wiederholen, während das globale ökologische und sanitäre Ungleichgewicht täglich zunimmt, um nur auf die Meere zu schauen, die sich schließlich in große Mülleimer verwandelt haben, ideal für die Verbreitung von Mikroben und jedweden anderen Typen von Viren. Der allgemeine Zustand ist bereits zum Erschrecken angetan, doch es kann gut eintreffen, dass im Jahr 2029 das berühmte Covid-19, unser und unserer Kinder und Enkel Dauerbegleiter, in guter Verfassung zehn Jahre eines grausamen Geburtstags feiert.
Wir suchen mit Sorgfalt weitere Meinungen und Kommentare unserer Gesprächspartner aus. Es ist eine illustre Mischung von positiven und negativen Antworten, bewegte, gekünstelte, besorgte und abstruse: ein Spiegel und echtes Kaleidoskop unserer dermaßen kranken Gesellschaft. Wir offerieren eine repräsentative Auswahl, stets mit originellem Inhalt, mit seltenen Standpunkten, einige selbst außerhalb der Nachvollziehbarkeit, wenn nicht fast lächerlich. Ohne eine Rangfolge der Wichtigkeit berichten wir:
Ein erster Freund berührte unsere Seele, in dem er sich weinend darüber beschwert, wie ihm die Fado-Abende fehlen, für ihn eine echte musikalische Liebhaberei, ernsthaft allemal. Diese Musik ist angefüllt von Pros sowie Contras der täglichen Gegenwart und des wahren Lebens, indes lehnt er kategorisch ab, dass die Pandemie das »Zeug zu einem mythologisch würdigen Inhalt« für Fado habe. Ein anderer fühlt sich traumatisiert von dieser Attacke auf die menschliche Gesellschaft, zeigt sich dennoch überzeugt, dass die moderne Medizin diesen schwierigen Kampf bestehen werde. Er glaubt daran, dass die Medizin stets in der Geschichte mit Erfolg sämtliche Epidemien und Pandemien überstand, mit hervorstechender reproduktiver Kraft und der Fähigkeit, sich der natur-medizinischen Instrumente zu bedienen, dieser Kräfte, welche in früheren Zeiten weniger entwickelt waren, selbst dauere Covid-19 bis zum Jahr 39 oder 49, verteidigt er seine Meinung. Ein dritter, befragt, ist sehr befriedigt über die wohltuende Pause der Flugzeuge »über meinem Dach«, lobt die sauberere Luft, die neue Ruhe der verbitterten, jetzt erwachenden Umwelt, die gesamte Natur viel grüner, ein vernünftiges Verbot mit guter Alternative für einen »wild daher stürmenden Tourismus«. Die teilweise Untersagung von Straßenverkehr in Städten, den Stopp der Kreuzfahrtschiffe, diese touristischen Fabriken von Schmutz und Schändung, entnehmen wir als gute Note seiner Perspektive. Ein anderer Freund von uns bejammert das Martyrium der unschuldigen, höchst betroffenen Kinder, welche für die unverantwortlichen Fehler eines frivolen Lebens, super luxuriös und glamourös auf  Kosten anderer, »bezahlen müssen«, zur Klarstellung: der vorhergehenden Generationen, Großeltern und Eltern einbegriffen. Eine Frau beweinte, dass viele Menschen, vornehmlich Arbeiterinnen, Frauen, wegen der Pandemie ohne Arbeit sind, und für viele schutzlose Kinder fehle das »nötige tägliche Brot», um das wir im Vaterunser bitten. Eine gläubige Frau erklärte uns, mit Ruhe und in voller Überzeugung, diese physisch spürbar, dass dieses ganze aktuelle Szenario, überhaupt nicht poetisch und so beunruhigend für viele, welche die Bibel mit ihren reichen Parabeln und Prophezeiungen nicht kennen, daran erinnert, dass es im »Buch des Lebens«, ihrer Meinung nach in Kapitel 11, Abteilung 18, über die Apokalypse gemäss dem heiligen Johannes geschrieben steht: »Es verschwinden die Völker, und ich sehe Deinen Zorn, und die Zeit der Toten, damit sie geurteilt werden, und die Zeit, den Propheten, Deinen Diener, sowie den Heiligen und diejenigen, Kleinen und Großen, die Deinen Namen fürchten, ihren Lohn zu geben, und die Zeit, diejenigen zu vernichten, welche die Erde zerstören.« Sie war lediglich sehr besorgt über die Verehrung der Heiligenfiguren in Kirchen und Heiligenstätten, wo die Leute die ausgestellten Exponate mit der Hand berühren, einige von ihnen sie  – unglaublich  – küssen! So sind Kirchen und Heiligenstätten Quellen sich endlos wiederholender Infektionen? Das kann nicht, das darf nicht sein.
Ein Freund, Philosoph von Beruf, mit luzider Stimme sowie den seltenen virtuellen Fähigkeiten der Astrologie, sagte ein Zukunftsbild eines unausweichlichen Erdbebens, gefolgt von einem apokalyptischen Sturm, voraus, sodass in der verbleibenden Welt lediglich friedliche Fauna und Flora verbleiben, schloss indes nicht die Möglichkeit aus, dass ein Großteil der Menschheit ins Universum entflieht, die Vorbereitungen dafür, wie unsere Gegenwart belegt, schon gut vorangeschritten, um ihre Konflikte und Kriege auf anderen Sternen und in kalten Galaxien fortzuführen. Ein medizinischer Freund kündigte ein radikales virus-lifting mit neuen Medikamenten an und ignoriert strikt den Bankrott der menschlichen Rasse. Im Gegenteil betont er eine glorreiche Wiedergeburt und Reanimation, mit neuen Verhaltensregeln sowie neuen und fortentwickelten Mechanismen, um die Natur sowie ihre Quellen zu schützen und zu retten, damit ein »Mensch ohne Maske« wiederkehre. Eine Dame, unter uns Freunden bekannt für ihre angenehme Obzession, mit lyrisch angemalter Rhetorik antipandemische Hoffnung zu verbreiten, sieht unendliche Freude in Abstraktionen der Gesundheit, schließlich faszinierende Reliquien in rosigen Horizonten. Eine weitere erklärte, sie sähe in der Diskussion über Virus und Pandemie eine sehr unterhaltsame Konspiration und Manipulation außerirdischer Individuen, um das Unglück auf der Welt zu verstärken, bevor sie sie besetzen. Es bedürfe eine starken Rebellion gegen diese schwarze Infiltration, fordert sie mit vor Zorn glühenden, grünen, gotischen Augen, in WhatsApp gut sichtbar. Ein letztes Signal kommt von einem Musikerfreund, zur Zeit im Hospital wegen des Virus Covid-19, welcher mit schwächlichen Worten, schon über den Pandemiewolken schwebend, triumphierend flüstert: »Wenn ich den Himmel betrete, werde ich mit einem ersten Versuch den hochverehrten Herrn Beethoven suchen und ihm im Namen der ganzen menschlichen Gesellschaft für die Faszination seiner Musik, die ´vollständig überweltlich´ ist, danken.« Geduld, mein Teurer, für diese Aufmachung, absolut berechtigt, haben wir Zeit. Welch ein Unterschied, denke ich mir, zwischen der Sorge unserer Blumenfrau und der unseres Musikus, beide mit dem Recht auf intime Aktualität.
Schließen wir diese kleine ausgewählte Sammlung und resümieren die unverdächtige Tatsache, dass alle portugiesischen BürgerInnen sich im Prinzip von dieser gefährlichen Misere, letzter hygienischer Anakronismus unserer Gesellschaft, angerührt fühlen. Alle sind voller solidarischer Aktivitäten und stärkster Hoffnung. In unserer persönlichen Statistik bewertet die Hälfte das Chaos mit positiver Aussicht, die andere Hälfte mit vielfältigen persönlichen Bedenken, eines Tages ohne diese Geissel des 21. Jahrhunderts zu leben, wobei in dieser Situation nicht viel Zeit verbleibt, gar nicht daran zu denken, dass es für dauerhaft sein könnte, ähnlich dem, was im Karneval von Venedig passiert, dieser italienischen Stadt, welche für ihre historischen Masken berühmt ist, im hohen Maße erfinderisch und geistreich, außergewöhnlich und absolut spektakulär. Die Pandemie ist in der gesamten Welt nicht lediglich ein Stummfilm, sondern schreit hinter Millionen von Masken nach Hilfe.
Die vollständige, wahre Chronologie der Corona-Pandemie wird vielleicht erst, wer weiß, von unseren Urenkeln geschrieben werden. Hoffen wir es nicht! Um im guten Gleichklang mit der portugiesischen Sprache zu bleiben, sagen wir lediglich und urteilen: Wir werden sehen, ob es gelingt, das Beste zu unternehmen, um diesem sozialen Fegefeuer ein Ende zu bereiten.

DPG: Erfolgreicher Strategie-Workshop

Illustration zum Thema Vereinsarbeit

DPG: Zoom Meeting und Treffen am 12.6.2021 in Berlin    von Gabriele Baumgarten-Heinke

> Nach einer Mitgliederversammlung 2020 in Berlin mit einem kritischen Blick auf den Entwicklungsstand der DPG und nach mehreren ZOOM Meetings mit Mitgliedern aus Portugal und Deutschland zum Thema der Ausrichtung der DPG, fand am 12.6.2021 in Berlin der 2. Strategieworkshop der DPG statt. Der Einladung zur hybriden Veranstaltung folgten Mitglieder des Präsidiums, der Vorsitzenden der Landesverbände und LeiterInnen von Stadtsektionen sowohl aus Deutschland als auch aus Portugal.    
Ziel des Workshops war eine Bestandsaufnahme und Diskussionen über Möglichkeiten und Chancen für die weitere Arbeit der DPG. Alle Mitglieder waren im Portugal Report 083 dazu aufgerufen, sich an dem Thema zu beteiligen. Auch außerhalb eines solchen Workshops haben die Mitglieder der DPG das Recht und die Möglichkeit, uns Ihre Kritiken, Wünsche, Vorstellungen und Ideen zuzusenden.
Im ersten Tagesordnungspunkt wurden die Ergebnisse des Strategieworkshops 2018 in Leipzig ausgewertet. Damals wurde in fünf Gruppen verschiedene Themen aufgegriffen und Lösungsansätze entwickelt. Die Gruppen beschäftigten sich mit den Themen: Fördermittel und Spenden einzuwerben, Finanzen der DPG, Mitgliederarbeit, Organisation und Führung sowie der öffentlichen Wahrnehmung der DPG. Was konnte von den entwickelten Ideen umgesetzt werden?
Die DPG ist beim Auswärtigen Amt in Lissabon registriert und berechtigt, für DPG-Projekte zum Nutzen der portugiesischen Communidade, Fördermittel zu beantragen. Es ist gelungen, Fördermittel für ein Konzert portugiesischer Musikstudenten in Leipzig, zu bekommen. Der Spendenaufruf auf der DPG Website im Dezember 2020 von unserem Redakteur Andreas Lahn, brachte einen Spendenerlös von 6.000 € ein. Es wurde ein neuer DPG-Flyer erstellt und verteilt, dieser ist online auf der DPG-Website dargestellt. Eine Mitgliederbefragung, die jedem Mitglied zugesandt wurde, diente der Recherche der Interessen und besonderer Fähigkeit der Mitglieder, um diese besser in die DPG-Arbeit einbeziehen zu können. Die Mitgliederversammlung 2020 war erstmalig ­digital, es folgten weitere digitale Treffen (ZOOM), zu denen alle DPG-­Mitglieder eingeladen waren. Es wurde ein einheitliches Erscheinungsbild der DPG (CI) durch Briefpapier und E-Mail-Adressen umgesetzt. Nicht umgesetzt werden konnte die Frage der Aktivierung der DPG in den Social Media-Kanälen (Facebook), das Thema wurde in den Strategieworkshop 2021 übernommen. Ebenso wurde das Thema einer DPG-Geschäftsordnung in den 2. Strategieworkshop übernommen. 
Mit dem Versand der Einladung zum Strategieworkshop 2021 an die leitenden Verantwortlichen der DPG wurden vorab Fragen zur Analyse des Stärken-Schwäche Profils gestellt, sowie Fragen nach Chancen und Ausrichtung der DPG. Die Antworten wurde vor dem Strategieworkshop ausgewertet und die Ergebnisse im Workshop vorgestellt. 
Die Ergebnisse der Analyse der Schwächen deckten sich zu einem großen Teil mit meinen Ausführungen im Portugal Report 083/Seite 13. Dazu gehören die sinkenden Mitgliederzahlen, die weitgehend altersmäßig begründet sind. Die Teilnehmer des Workshops diskutierten an dieser Stelle, wie diese Entwicklung gestoppt werden kann. Die DPG hat eine beeindruckende Historie, ein gutes Netzwerk und ­viele engagierte ehrenamtlich tätige Mitglieder. Dieses Potential gilt es zu nutzen.
Es wird aber auch festgestellt, dass der Austausch innerhalb des Vereins fehlt. Deshalb sei einer der wichtigsten Punkte zur Aktivierung der DPG-Arbeit die Kommunikation und Vernetzung der leitenden Verantwortlichen untereinander.  Es wurde beschlossen, dass regelmäßige ZOOM Meetings stattfinden sollen um sich besser kennenzulernen, sie sollen als Erfahrungsaustausch genutzt werden und die Möglichkeit bieten, über vorgegebene Themen und Projekte zu diskutieren. Des Weiteren ­sollen sich die Vorsitzenden der Landesverbände und Stadtsek­tionen zukünftig gegenseitig zu ihren Encontros einladen bzw. über deren Termine und Themen informieren. Ziel ist es, damit Synergien zu entwickeln. Die Information über stattfindende Veranstaltungen sollen auch an den Redakteur des Portugal Reports versandt werden, damit diese auf der Website veröffentlicht werden können. 
In den Diskussionen wurde festgestellt, dass die Arbeiten, wie die Vorbereitung von Tagungen, oft in den Händen weniger Mitglieder liegt. Deshalb soll sich ein Thema in den ZOOM Meetings damit beschäftigen, die Arbeit zukünftig besser über bestimmte Aufgabengebiete zu verteilen. Es wäre denkbar, ein Mitglied für die Pressearbeit zu gewinnen, um z. B. in den Regionalzeitschriften mehr auf unsere Arbeit aufmerksam machen zu können. Als wichtig erschien auch das Thema Marketing, hier vor allem die Erarbeitung von Verträgen für geldwerte Vorteile für unsere Mitglieder. Das funktionierte bis zum Jahr 2017. Ein Verantwort­licher für die Öffentlichkeitsarbeit könnte die Betreuung der Social-­Media-Kanäle übernehmen. 
Um die Aufgabengebiete des Präsidiums (Geschäftsführender Vorstand und vier Vizepräsidenten) noch genauer definieren zu können, wird es zukünftig ergänzend zur Satzung eine Geschäftsordnung geben. Der Entwurf wurde zum Strategie-Workshop vorgelegt und wurde in dem nächsten stattgefundenen ZOOM Meeting final verabschiedet.  
Zur Unterstützung der Arbeit der Vorsitzenden der Landesverbände und Stadtsektionen wurde im Strategieworkshop der Entwurf der »Empfehlungen für die Vorsitzenden der LVB und STS« diskutiert, auch dieser liegt nun final vor und den entsprechenden Mitgliedern zugesandt.  
Um den Außenauftritt der DPG zu aktivieren, wird von den leitenden Verantwortlichen die Versandliste des Portugal Reports geprüft und ergänzt. Zukünftig soll der Versand noch breiter aufgestellt werden und zum Beispiel auch an die Internationalen Schulen bzw. Deutsche Schulen in Portugal versandt werden, wie auch an Volkshochschulen mit portugiesischen Sprachkursen.  
Die TeilnehmerInnen sahen auch einen wichtigen Punkt darin, zukünftig noch mehr den Kontakt zu anderen Vereinen und Gesellschaften mit einem Portugal Bezug zu pflegen. 
Zum Thema »Zielsetzung der DPG« wurde der aktuelle Flyer der DPG besprochen und es wurde festgestellt, dass dieser aussagekräftig ist, die Ziele der DPG genau formuliert und weiterhin gelten soll. Mitglieder können diese gern über die DPG-Geschäftsstelle bestellen. 
Das Hauptthema des Strategie-Workshops war »Die DPG zwischen Tradition und Neuausrichtung«. Die Traditionen werden wir pflegen, die Dokumentation der Geschichte der DPG wird recherchiert und mit den uns gestellten Aufgaben nach diesem erfolgreichen Strategieworkshop, vor allem mit einer verbesserten Kommunikation untereinander, haben wir eine verbesserte Ausrichtung gefunden und werden so unsere Deutsch-Portugiesische Gesellschaft, nach einer Corona-Pause, wieder aktivieren.
Dafür einen herzlichen Dank all den Mitgliedern, die uns Ideen und Meinungen zugesandt haben und damit zum Gelingen des 2. DPG-­Strategie-Workshops beigetragen haben.

Buch »Das Lissabon des Fernando Pessoa«

Foto von Fernando Pessoa

Auf Pessoas Spuren: Zu Catrin George Poncianos Buch »Das Lissabon des Fernando Pessoa«    Fragen von Andreas Lahn

> Was interessiert dich als deutsche Schriftstellerin an deinem portugiesischen Kollegen Fernando Pessoa?
Catrin George Ponciano: Das literarisch Revolutionäre in Pessoas Buch der Unruhe hat mich vom ersten ­Lesen an, gefesselt. Die Idee, einen Hilfsbuchhalter durch Lissabon laufen zu lassen und dessen Gedanken zum Drama im Menschen zwanzig Jahre lang zusammenzutragen, um die Gesellschaft Portugals im Umbruch zu sezieren, nenne ich genial. Diese analytisch poetische Genia­lität des Fernando Pessoa interessiert mich. Von ihm lerne ich als Deutsche, Portugal und sein Volk mit gedanklich gereinigter Sicht zu betrachten. 

Es gibt etliche Texte und Bücher über Fernando Pessoa. Welche Lücke schließt dein Buch?
Ein befreundeter Dichter sagte zu mir: »Catrin! Noch ein Pessoa-Buch?« Stimmt, es gibt unzählige Werke über Pessoa, und alle nähren sie einen eigenen literarischen oder geistigen Aspekt. Ich zum Beispiel erzähle von Pessoas Leben und von den Menschen, die in seinem Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben. So entstehen Szenen für ein zeitgeschichtliches Bild, vor der Kulisse Lissabons zusammengefügt, die die LeserInnen durch Das Lissabon des Fernando Pessoa geleiten. Hierfür habe ich mich auf Pessoas Schulter gesetzt und einen Spaziergang durch sein Lissabon zwischen 1905 und 1935 gewagt. Dieses Wagnis teile ich in meinem Buch mit meinen LeserInnen und möchte gleichzeitig deren Reiselust auf Lissabon und ihre Leseneugier auf Pessoa stimulieren.

Mit seinen Heteronymen erfindet Pessoa über 80 weitere Ichs, die er mit eigenen Lebensläufen, Horoskopen und Eigenschaften ausstattet. Du schreibst: »Zu jeder Situation entsteht der nötige Gefährte, und Fernando verleiht ihm Identität. So ist er niemals wieder allein.« Die Lösung gegen vermeintliche oder echte Einsamkeit?
Als Autorin fühle ich mich bestimmten Schriftsteller-Vorfahren verbunden. In Portugal sind das Florbela Espanca und Fernando Pessoa − zwei bekennende Einzelgänger. Diese Art von Einsamkeit kann man mittels einer nach innen gewandter Realität steuern, und bleibt getrennt von der tatsächlichen. Das verlangt jedoch Durchlässigkeit oder anders gesagt: Alles ist Reflexion, die aus der nach innen gewandten Realität nach außen drängt und sich Gehör verschafft. In Pessoas Fall, vermute ich, war das Erfinden anderer Ichs zunächst ein Experiment. Später fungierten seine Heteronyme als elementar ­angeordnete Wächter für sein Innen-Ich. Pessoa fahndete immerzu nach dem Drama im Menschen, dabei trug er es zeit­lebens in sich, wollte das aber unbedingt verbergen. Sein emotionales Defizit, sich nicht über sich selbst mitteilen zu können, führte zwangsläufig in selbst erwählte und in den letzten Lebensjahren in schier unerträgliche Einsamkeit.

An welchen Orten in Lissabon hat Fernando Pessoa zur Ruhe gefunden, jenseits von Cafés, Restaurants und Kneipen?
In Lissabon konnte Pessoa nirgends Ruhe finden, daran hinderte ihn seine ausgeprägt vegetative Wahrnehmungsfähigkeit. Wirklich Ruhe finden konnte Pessoa meines Erachtens bloß nach literarisch exzessiven Ergüssen »für die Truhe«, sobald er in einen Erschöpfungsschlaf fiel.

Kurz nach einem Streit mit Pessoa nimmt sich der Dichter-Kollege und Freund Mário de Sá-Carneiro in Paris das Leben. Was bedeutet dieser Tod für Fernando Pessoa?
Mário de Sá-Carneiro schrieb in seinem Abschiedsbrief: Des Dichters Hände haben den Wettlauf gegen den Tod verloren. Für Pessoa ein Trauma, der Verlust des Freundes plus dessen letzte Worte. Ein prägender Moment, in dem Pessoas innere Realität auf die einzig gültige Lebenswahrheit trifft, die ihm ausgerechnet sein jemals bester Freund posthum als Botschaft hinterließ, und Pessoa sozusagen aus dem Jenseits noch den Spiegel der eigenen Endlichkeit vorhielt. Darüber ist Pessoa nie hinweggekommen.

Warum hat Pessoa die Beziehung zu seiner einzigen großen Liebe Ophélia Queiroz nach nur wenigen Monaten beendet?
Als Dichter fühlte Pessoa sich verpflichtet, seiner Berufung zu folgen. Es sei ein Diktat eines höheren Wesens, sagt er. ­Einerseits. Meines Erachtens war ihm bewusst, dass er Ophelia nicht gänzlich glücklich machen konnte, denn er würde sich immer für seine Berufung entscheiden. Ergo musste er Ophelia freigeben − aus Liebe −, um ihr nicht das Grundrecht auf Glück zu rauben und auch, um sich selbst treu zu bleiben.

Pessoa hat von Diktator Salazar eine Literaturauszeichnung angenommen, den Antero de Quental-Preis. Aus Eitelkeit oder unter dem Kalkül, danach freiere Hand in der Wahl seiner Worte zu haben?
Tja, darüber spekuliere ich ebenso, denn Pessoa hat noch bis kurz vor seinem Tod regelmäßig Plädoyers veröffentlicht, in denen er das herrschende politische System heftig kritisierte. Gezeichnet mit fremden Namen aus seinem Pessoarium. Das war sicherlich Kalkül. Ein Heteronym kann schließlich nicht zensiert oder festgenommen werden, denn es existiert physisch nicht. Bestimmt wollte Pessoa weitere Werke unter eigenem Namen veröffentlichen, den initiierten Modernismus in Schwung halten, und sich ein literarisches Denkmal setzen. Seine humanistische Haltung im Estado Novo zu vertreten und gleichzeitig weiterhin als Poet anerkannt zu sein, glich einem Spagat, der ihm, davon bin ich überzeugt, etliche schlaflose Nächte bereitet hat. 

Welche Bedeutung hat Fernando Pessoa im Portugal von heute? Können gerade junge Menschen aus seinen Texten etwas für das Leben lernen?
Literatur ist das einzige Human-Kultur­erbe, woraus wir nie aufhören werden zu lernen. Denn sie setzt sich ein für das freiheitliche Denken aller. Wie die VerfasserInnen heißen, ist unwesentlich. Wesentlich ist eine bewusste Auseinandersetzung mit Inhalt und Kontext. Von Pessoa können junge LeserInnen lernen, Situationen in mehreren Dimensionen zu beleuchten, ohne zu einer Schlussfolgerung kommen zu müssen. Jeder Gedanke verdient gebührend Beachtung. Ein Fazit, das Mut, Diversität und Respekt in der Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer beschert. Was ein bereicherndes Motto für Portugal ist, im Grunde genommen überall auf der Welt gilt.

Lissabons Charme besteht damals wie heute auch aus dem faszinierenden Licht, das die Stadt in immer neue Stimmungen taucht. Warum bloß sind die Fotos des Buches »nur« in Schwarzweiß und nicht in Farbe gedruckt?
Die Lektüren in der Wegmarken-Reihe der Edition A·B·Fischer Berlin sind durchgehend Schwarzweiß konzipiert. Das professionelle Auge hinter der Kamera heißt Angelika Fischer, und sie ist die Co-Verlegerin in der Edition A·B·Fischer. Ihrer lebenslangen Erfahrung als Schwarzweiß-Fotografin verdanken alle Wegmarken ihre visuellen Begleiter.

Als Teile von Pessoas Nachlass die berühmte Truhe verlassen und als »Buch der Unruhe« 1985 auf Deutsch erscheinen, wird dies als »das traurigste Buch Portugals« angekündigt. Ich empfinde es eher als tiefsinnigen Ratgeber für alle Lebenslagen. Was denkst du über diese Text- und Gedankensammlung?
Da bin ich völlig bei dir. Ich gestehe: Pessoas Buch der Unruhe steht stets griffbereit und beschert mir exakt die Ruhe, die ich brauche, um mir Gedanken über die Welt zu machen.

Für deinen Kriminalroman »Leiser Tod in Lissabon« hast du den Wittwer-Thalia-­Debütkrimipreis gewonnen. Herzlichen Glückwunsch! Ich finde, Kommissarin Dora Monteiro hat lange genug auf der faulen Haut gelegen. Wann nimmt sie ihre Arbeit wieder auf?
Wenn ich den Preis am 1. Oktober 2021 in Stuttgart entgegennehme und danach wieder in Portugal ankomme, beginne ich das Manuskript für den zweiten Band der Dora Monteiro ermittelt Portugal-Noir-­Reihe. Der nächste Band erscheint im Spätsommer 2022 bei Emons. Im nächsten Fall ermittelt Dora an der paradiesisch blauen Küste Portugals. Dort wird sie sorgsam gehütete pikante Episoden aufdecken, eine brisante Vertuschungsaffäre neu aufrollen, ihrer Jugendliebe begegnen und ihren Nachfolger bei der Kripo impertinent nerven. Wo es die ­leckersten Muscheln, den besten Fisch und süffigen Wein zum Genießen gibt, erfahren die LeserInnen unterwegs. Und natürlich ist Doras Maskottchen, der Rabe, mittendrin dabei.

Buch Cover »Das Lissabon des Fernando Pessoa«

Buch Cover »Das Lissabon des Fernando Pessoa« · © Verlag A · B · Fischer


Catrin George Ponciano
Das Lissabon des Fernando Pessoa
mit Fotos von Angelika Fischer
Verlag A ·B Fischer · 2021 · 13,5 × 21cm
64 Seiten · ISBN 978-3-9481-1407-7 · 16 €

Zur Website von Catrin George Ponciano