8. Mai 1944 in Alhandra: Marcha da Fome

Foto eines Wandbildes vom Marcha da Fome der Frauen aus Sacavem

Marcha da Fome der Frauen aus Sacavem

8. Mai 1944: Marcha da Fome von Alhandra nach Vila Franca de Xira

Frauen organisieren Hungermarsch gegen Salazar-Diktatur. Die anschließende Repression bringt viele zum Schweigen – einige für immer • von Catrin George

Die feministische Bewegung in Portugal erzählt viele mit Leid erfüllte Geschichten. Doch nur wenige Frauen sprechen über das, was mit ihnen wegen ihres Aufbegehrens vor der Nelkenrevolution passiert ist − oder sie schweigen für immer!
»Die einzige Gleichberechtigung, die Frauen zusteht, ist die Heirat. Alles andere ist unwürdig, Sünde und Schande«, proklamierte Fernando Castro Pires de Lima, treuer Gefolgsmann der Regierung 1932, die Rolle der Frau im »Estado Novo«. Bereits im Vorschulalter traten damals Mädchen der Portugiesischen Mädchen-­Jugend (MPF) bei, Kurzform für Mocidade Portuguesa Feminina, um sie auf das für sie vorgesehene Leben als Hausfrau, Mutter und Ehefrau vorzubereiten, sowie auf ihre nationale Pflicht, Gott, dem ­Vaterland und der Familie zu dienen. Während der Salazar-Regierung fand das Thema Gleichstellung grundsätzlich kein Gehör, und Frauen, die es wagten, ihre Meinung zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation öffentlich kundzutun − oder gar kritisch Stellung zu ­beziehen −, wurden umgehend bei der Geheim-Polizei PIDE denunziert. Ihre ­Namen wurden dann auf die schwarze Liste gesetzt. Stand ihr Name einmal auf dieser Liste, erlitt die gesamte Familie Repressalien. Das Gebot der Stunde lautete für Frauen deshalb, zu gehorchen und zu schweigen − beinahe ein halbes Jahrhundert lang.
Trotzdem organisierte sich weiblicher Widerstand in Alhandra, unweit von Vila Franca de Xira. Nordöstlich von Lissabon formierte sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges eine Gruppe Fabrikarbeiterinnen, um gegen die allgegenwärtige Hungersnot im Land zu protestieren. Grund für den Hunger im Volk waren keineswegs fehlende Erträge in der lokalen Landwirtschaft, sondern Salazars Export-Politik. Er verkaufte en gros Getreide, Fleisch und Konserven an das Deutsche Reich sowie an das faschistische Italien. Die Preise für Lebensmittel auf dem heimischen Markt stiegen ins Unermessliche. Niemand war mehr in der Lage, seine Familie zu ernähren.
Anfang Mai 1944 organisierten deswegen Bürgerinnen aus Alhandra einen groß angelegten Protestmarsch, der am 8. Mai 1944 als sogenannter Hungermarsch (Marcha da Fome) in die Ge­schichte einging. Die Arbeiter in den ­Zementfabriken Alhandras riefen den Generalstreik aus und marschierten ­gemeinsam mit den Frauen nach Vila Franca de Xira, wo sich Fabrikarbeiter, Büro-­Angestellte, Bauern, Handwerker, Fischer und Tagelöhner dem Marsch anschlossen. In sämtlichen Peripherien rund um die Hauptstadt legten die Arbeiter ihre Arbeit nieder und folgten dem Aufruf der Frauen aus ­Alhandra. Die Anführerinnen liefen an der Spitze und trugen schwarze selbstgenähte Fahnen mit der Aufschrift »Gebt uns Brot − wir hungern«.
In Lissabon wurde der überwiegend von Frauen angeführte Menschenstrom bereits von der Guarda Nacional da República erwartet. Warnschüsse zischten durch die Luft. Demonstranten wurden von den Polizisten zur Seite geschubst oder geschlagen, aber aufhalten konnten die Polizisten den Marsch nicht. Doch plötzlich und wie auf Kommando warfen sich Polizisten − wild um sich prügelnd − in die Menge. Gezielt schlugen sie Frauen nieder, die das Fahnenbanner hochhielten, und danach auch andere Frauen, die sich ihnen in den Weg stellten. Der bis dato friedliche Aufmarsch gerät außer Kontrolle: Hunderte Frauen wurden von Polizisten getreten und geschlagen, gingen wehrlos zu Boden und wurden reihenweise verhaftet.
«Es war furchtbar mit anzusehen, dass Menschen wegen ihres Hungers zu Kriminellen degradiert und für ihren leeren Magen körperlich gezüchtigt werden, obwohl jeder weiß, dass auf der anderen Seite der Stadt im Bahnhof Apolonia, Waggonladungen voll mit fett gefüttertem Schlachtvieh, Mais und Getreide auf den Transport nach Italien und Deutschland warten», hielten Augenzeugen ihre Beobachtungen fest.
Alle Anführerinnen des Hungermarsches wurden verhaftet und im Pide-­Hauptquartier in Caxias ins Gefängnis gesteckt, wo man sie vier Monate lang gefangenhielt und folterte. Im Grunde genommen hatte die Miliz gar kein Interesse an den Frauen. Sie misshandelten und verhörten sie, um die Namen mög­licher Separatisten aus ihnen heraus­zuprügeln. Paradoxerweise war aus ­Alhandra bis zum Hungermarsch am 8. Mai 1944 noch niemand aktiv in den wachsenden Widerstand gegen das Salazar-Regime involviert. Somit konnten die Frauen ihren Folterknechten gar nichts verraten. Ihre sinnlos erlittenen Qualen erschütterten damals alle Frauen in Portugal. Die einen zogen den Kopf noch ein Stück tiefer und schwiegen weiter, andere suchten einen Weg in den Untergrund und legten damit den Grundstein für organisierten Feminismus.
Zwar blieb ihr Kampf für Gleichstellung und Gleichbehandlung in der ­Öffentlichkeit bis zur Nelkenrevolution unbeachtet. Nachdem aber eine Gruppe Aktivistinnen 1976 die bis heute bestehende feministische Organisation UMAR (União de Mulheres Alternativa e Resposta) gründete und sich politisch für Frauenrechte engagiert, haben Feministinnen in Portugal eine Menge Verbesserungen für ihre Geschlechtsgenossinnen durchgesetzt. Das Thema Gleichstellung bleibt dennoch ein sozialer Streitpunkt, denn in Portugal und besonders in der Landbevölkerung herrscht nach wie vor die konservativ-­patriarchalische Familien­struktur, in der Frauen mit den typischen weiblichen Rollen-Attributen Ehefrau und Mutter abgestempelt und oftmals diskriminiert werden. Stetige Aufklärung seitens der Frauen-Bewegung trägt dazu bei, in der modernen Gesellschaft das Bewusstsein zu erweitern und Frauen als gleichberechtigt anzuerkennen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Schicksal etlicher Frauen, die der diktatorischen oder familiären Willkür des Salazar-Regimes ausgesetzt waren.
Dank Antónia Balsinha aus Alhandra und anderen Schriftstellerinnen bekommen weibliche Folteropfer und ihre Genossinnen endlich eine literarische Stimme, und die biografische Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels über die Unterdrückung der Frau im einstigen »Estado Novo« kommt voran. Welches Genre die Literatur auf diesem Sektor letztlich bedient, ist nicht ausschlaggebend, sondern allein die einende Botschaft zählt: »Es gibt immer eine, die sich auflehnt, eine, die ›Nein‹ sagt!« und damit nacheifernden Frauen den nötigen Mut einflößt, für ihre Rechte einzutreten.

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