Zur Geschichte von Dídio Pestanas ungewöhnlichem Film «Sobre tudo – sobre nada» • von Gert Peuckert
> Dídio kenne ich seit Beginn der 2000er Jahre. Damals studierte er portugiesische Sprache und Literatur an der Universität Lissabon und nahm Unterricht bei dem Jazz-Gitarristen Mário Delgado an der renommierten Musikakademie Hot Clube de Portugal.
Mit seinem Freund Gonçalo Tocha gründete er die Band «Lupanar», deren Sängerin Ana Bacalhau heute mit ihrer Band «Deolinda» viele Konzerte im In- und Ausland gibt.
Dídio verkörpert eine neue Generation von jungen Künstlern aus Portugal, die überall in Europa und der Welt kreativ unterwegs sind, aber weiterhin eine starke Bindung zu ihren portugiesischen Wurzeln haben. In seinem Film schildert er durch die Linse einer Schmalfilmkamera seinen Alltag als Portugiese und Weltenbummler nach seiner Umsiedlung im Jahre 2006 von Lissabon nach Berlin. (www.sobretudosobrenada.com)
Man spürt beim Betrachten seiner Aufnahmen die Freude und Lust am Leben, die Liebe zu Familie, Freunden und dem neuen Umfeld in Berlin-Kreuzberg, das für ihn zunehmend zum Lebensmittelpunkt und vorübergehendem Zuhause wird.
Der preisgekrönte Dokumentarfilm im Super-8-Format zeigt in Tagebuchform das abwechslungsreiche Lebensjahrzehnt eines jungen portugiesischen Menschen inmitten seines Alltags, ein kosmopolitisches Leben mit Freundinnen und Freunden, das immer wieder von Reisen und Aufenthalten in verschiedenen Ländern Europas, Afrikas und Lateinamerikas bereichert wird.
Der Film ist zugleich ein persönliches Selbstporträt, das Einblicke in seine innerste Gedankenwelt gibt, die stetig den Bezug zu Portugal und seiner Familie finden − zum weiten Horizont am Strand von Guincho, wo alles seinen Anfang nahm − jenen Horizont am Cabo da Roca, den er nie aus seinen Augen verliert.
Wir bekommen einen Eindruck vom Leben einer neuen Generation junger portugiesischer Menschen in Deutschland, die frei von Zwängen hier ihre Selbstverwirklichung sucht und voll in die hiesige Gesellschaft integriert ist.
Didio wurde vom kreativen Freundeskreis in seinem neuen Umfeld in Berlin, insbesondere aber seinem langjährigen Freund und künstlerischen Partner, dem portugiesischen Musiker und Filmemacher Goncalo Tocha, für die Arbeit an seinem Dokumentarfilm inspiriert. Beide haben auch schon als Musiker in dem Musikduo «Tochapestana» zusammengespielt und sind erfolgreich in Berlin und Portugal aufgetreten. (Weitere Informationen auf www.tochapestana.com)
Gonçalo Tocha zählt inzwischen zu den profiliertesten portugiesischen Filmemachern und an zahlreichen internationalen Wettbewerben teilgenommen. Sein künstlerisches Hauptthema sind die Azoren. Im Jahre 2007 begann er mit der Produktion einer Dokumentation auf der Insel Corvo, von der auch seine Familie stammt. Es gelang ihm ein wunderbares Porträt vom Leben und dem harten Alltag der nur etwas mehr als 400 Einwohner zählenden kleinsten aller AzorenInseln mit autobiografischen Zügen zu schaffen. Sein Film «É na terra não é na lua» wurde 2011 auf dem internationalen Festival in Locarno und der Doclisboa 2011 ausgezeichnet.
In seinem bereits 2007 gedrehten Film «Balaou» dokumentiert er in beeindruckenden Bildern die Überfahrt von der Azoren-Insel São Miguel in einem Segelboot zum portugiesischen Festland. Zu beiden Filmen schuf Dídio Musik und Ton. All jenen, die sich für die Azoren begeistern und neben den Schönheiten der Natur mehr über das Leben und Denken der Inselbewohner erfahren wollen, sollten sich diese Filme anschauen. (https://dafilms.com/film/8464-it-s-the-earth-not-the-moon; https://www.cinema.de/film/balaou,4452561.html )
Die portugiesische Filmemacher-Szene hat sich in den letzten Jahren dynamisch entwickelt und auch international an Profil gewonnen. Viele junge Dokfilmer, so auch das Erstlingswerk von Dídio, erhielten und erhalten fachliche Unterstützung von der Künstlergemeinschaft Kintop in Lissabon. (www.kintop.pt). Ziel dieses Projektes ist die Förderung von kreativen Filmprojekten des neuen alternativen Kinos in Portugal und deren Verbreitung und Kommerzialisierung im Ausland. Das Künstler-Team von Kintop setzt sich in ihren filmischen Dokumentationen sowohl mit sozialen Alltagsproblemen als auch mit historischen Themen wie der Aufarbeitung des Wirkens der Geheimpolizei PIDE in den Jahren der faschistischen Diktatur auseinander.
So erzählt die Dokumentation «Luz Obscura» der portugiesischen Filmemacherin Susana de Sousa Dias die Geschichte der Familie des eingekerkerten Kommunisten Octávio Pato, die von der PIDE über viele Jahre beobachtet und verfolgt wurde. Der Film basiert auf Originaldokumenten der Geheimpolizei aus den Jahren 1926 bis 1974 und wurde von der Portugiesischen Kino-Akademie mit dem Preis Sophia 2019 geehrt.