«Dark Tourism» in Portugal?

Foto der «Capela dos ossos» in ÉvoraDie «Capela dos ossos» in Évora · Foto: © Andreas Lahn

Ist schon okay, überall hinzufahren. Oder doch nicht?    von Miguel Oliveira

> Zu Unterrichtsbeginn stelle ich meinen Studenten zwei Fragen. − »Gibt es in Portugal Dark Tourism und seid ihr Dark Tourists?« Sie gucken verdutzt. Stille. — 

»Ein anderes Wort, das häufig für Dark Tourism als Synonym verwendet wird, ist Thanatourismus, das an den altgriechischen Totengott Thanatos verweist. Wiederum andere bezeichnen Dark Tourism als Katastrophentourismus«, setze ich nach. Die Antwort kommt nun wie aus der Pistole geschossen. Nein! Klar wie Kloßbrühe! In Portugal haben wir Strandtouristen, die im Meer schwimmen und Sonne tanken. Kulturtouristen, die sich für unsere kulinarische Vielfalt, Museen, Musik, Kunst und Architektur interessieren. Städtetouristen, die Lissabon, Porto oder Coimbra bereisen. Geschäftstourismus. Messetourismus. Kur- und Gesundheitstourismus, welcher sich wegen der zahlreichen Thermalquellen im Land, denen therapeutische Eigenschaften nachgesagt werden, großer Beliebtheit erfreut. Sporttourismus, wenn jemand z. B. nach Guimarães fährt, um dort ein Fußballspiel zu sehen oder um in Ericeira einige Tage zu surfen. Tagungs- oder Kongresstourismus … 

»Ja ja!«, unterbreche ich ungeduldig meine Studenten, bevor sie mir noch in ihrem Eifer mit Öko-, Fahrrad-, Binnen- und anderen Tourismusformen kommen. 

»Zurück zu Dark Tourism!« Ich erkläre. Definiere kurz. Den Begriff. Schulmeistere. Doziere. Das mag ich an meinem Beruf nicht. Dass alles aus meinem Mund immer belehrend klingen muss. 

− »Wie das englische Wort schon sagt, geht es um die düsteren Kapitel der Landesgeschichte. Normalerweise verbindet man mit dem Begriff Tod und Leid. Menschliche Tragödien. — In Deutschland kann man z. B. die stehengebliebenen Teile der Berliner Mauer besichtigen. Während des Kalten Krieges stand die Mauer für Teilung und Abschottung. Über 140 Menschen kamen beim Versuch die Mauer zu überwinden ums Leben. Außerdem gibt es in Berlin eine Gedenkstätte. Ein früheres Stasi-Gefängnis, das man heute besuchen kann und wo man etwas über die Haftbedingungen und Schicksale der Inhaftierten erfahren kann. — In Polen kann man das ehemalige KZ Auschwitz besuchen. — Der schwarze Tourismus wird oft kritisch beäugt. Man wirft dieser Art von Touristen vor, makaber, morbide und sogar un­moralisch zu sein, weil sie sich an dem schmerzlichen und schrecklichen Schicksal anderer erlaben und diese Orte bloß zum persönlichen Vergnügen aufsuchen. Aber das stimmt nur in wenigen Fällen. Wenn man z. B. ehemals zerbombte Kriegsschauplätze besucht, wo man inzwischen Wanderwege von Bunker zu Bunker eingerichtet hat, ermöglicht uns diese Art des Tourismus, aus den dunklen Kapiteln der Geschichte zu lernen. Uns der Opfer zu erinnern. Respekt zu zollen. Viele dieser Orte dienen der Menschheit als Mahnung. Wir sehen uns mit der tragischen Vergangenheit eines Kollektivs oder eines Individuums konfrontiert und können…« 

Eine kleine Truppe Zuspätkommer platzt in den Unterricht herein. Unter…brechen. Wie mit einer Schere schneiden sie meinen Gedanken- -Faden durch. Ich atme tief ein und aus. Versuche ruhig zu bleiben. Ich warte bis die Herrschaften sich bequemen sich hinzusetzen und auch das letzte Pausengespräch beenden. Ich strafe sie mit einem strengen Blick auf meine Armbanduhr. Ein Mädel zuckt mit den Achseln. Sie scheint sich zu fragen, was will der Alte eigentlich? Sind doch nur acht Minuten! — Ich versuche wieder meinen Faden zu finden. Ihn rot zu spinnen. Und spinnen kann ich gut, denke ich verschmitzt. 

 

Foto der Grabkapelle von Fernando Pessoa in Lissabon

Grabkapelle von Fernando Pessoa in Lissabon · Foto: © Andreas Lahn

 − »Eine Unterkategorie des schwarzen Tourismus ist der Friedhofstourismus, also das Besuchen von Friedhöfen und anderen Grabstätten.« Ich mache eine kurze Pause. Jetzt wiederhole ich meine Anfangsfrage. Zögerlich bekomme ich einige Antworten. Eine Studentin sagt: − »Im Panteão Nacional  (Nationales Pantheon) finden sich die Ruhestätten berühmter Portugiesen, wie die Schriftsteller Almeida Garrett, Guerra Junqueiro, Aquilino Ribeiro. Aber auch der furchtlose General Humberto Delgado, der den Diktator António de Oliveira Salazar absetzen wollte, ist dort bestattet worden, sowie die Fadistin Amália Rodrigues. Auch der Fußballspieler Eusébio ist dort beigesetzt worden. Im Jahr 2020 besuchten trotz Corona-Pandemie mehr als 171.000 Menschen das Pantheon.« 

»In der Nähe von Funchal«, sagt ein anderer Student, »befindet sich in der Igreja da Nossa Senhora do Monte (Wallfahrtskirche der Heiligen Maria in Monte) das Grab Karl I., dem letzten Kaiser Österreichs, der mit seiner Familie nach Madeira verbannt worden war, und der 2004 von Papst Johannes Paul II seliggesprochen wurde.« Wieder ein anderer erwähnt die unheimliche Capela dos Ossos (Knochenkapelle) in Évora. Auch das Mosteiro de Alcobaça (Kloster von Alcobaça) findet Erwähnung, wo die Sarkophage von Dom Pedro und Inês de Castro so aufgebahrt wurden, dass sie sich am Tag des Jüngsten Gerichts von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden. Eine tragische Geschichte. Insbesondere die der Hinrichtung der schönen Inês in der Quinta das Lágrimas (Quinta der Tränen). Auch ein Besuch hier gilt definitions­gemäß als Dark Tourism. Zu guter Letzt werden ebenfalls das Forte de Peniche (Festung von Peniche) und das Prisão do Aljube (Gefängnis von Aljube) angeführt, in dem politische Gefangene unter Salazar und später Marcello Caetano nicht nur ihrer Freiheit beraubt, sondern auch gefoltert wurden. Sowohl die Festung von Peniche als auch das Gefängnis von Aljube wurden inzwischen in Museen umgewandelt, welche an den Widerstand gegen den Estado Novo (Neuen Staat) erinnern… Ich nicke zufrieden. Und füge ein weiteres Beispiel hinzu. − »Am 1. November 1755 gab es eine der größten Naturkatastrophen, die Portugal jemals ereilte. Das Erdbeben von Lissabon. Man kann bis heute die Ruinen des Convento do Carmo (Kloster des Karmeliter Ordens) besuchen und man gewinnt dort einen Eindruck, wie heftig die Zerstörungskraft des Erdbebens, der darauffolgenden Feuersbrunst, die die meisten Holzhäuser niederbrannte und des Tsu­namis war, der den Rest der Stadt, nur wenige Minuten darauf, verwüstete. Dieses schreckliche Ereignis, über das man überall in Europa sprach, bestürzte sogar im fernen Frankfurt einen der größten deutschen Dichter. Der junge Goethe war so verstört von den Nachrichten, die aus Portugal nach Deutschland drangen, dass er seinen Glauben an einen gut-väterlichen Gott ›Erhalter [des] Himmels und der Erden‹ in diesem Jahr einbüßte.« (Börner, Peter. Johann Wolfgang von Goethe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999: 16.) 

Wieder schaue ich auf die Uhr. − »Heute haben wir nicht mehr die Zeit, uns mit der nächsten Frage zu beschäftigen, die sich nun aufdrängt. Deswegen gebe ich euch eine kleine Hausaufgabe auf.« Die Schüler freuen sich — ganz und gar nicht. Ein unmutiges Räuspern ist zu vernehmen. Geht durch den Klassenraum. − »Ist es unethisch, wenn man als Tourist an diesen Orten, wie z. B. dem ehemaligen Konzentrationslager Tarrafal, welches auf der kapverdischen Insel Santiago liegt, und wohin man während der portugiesischen Diktatur Oppositionelle verfrachtete, gefangenhielt und zu Tode folterte, ein Selfie macht?«

Kurz bevor ich die Stunde beende − ich kann es mir einfach nicht verkneifen − richte ich mich dann doch noch an die Zuspätkommer. − »Der Deutsche Volksmund sagt: ›Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Deutschen Pünktlichkeit!‹ Warum könnt ihr das eigentlich nicht? Pünktlich sein!?« Ein junges Mädchen feixt. Grinst mich frech an. Sie sagt: − »Aber Herr Professor, auch wir in Portugal haben eine idiomatische Wendung: Mais vale tarde do que nunca! — Lieber spät als nie!«   

MIGUEL OLIVEIRA ist Autor mehrerer Bücher, u.a. von Monographien über den amerikanischen Schriftsteller portugiesischer Abstammung John Dos Passos. Auf Deutsch gibt es Oliveiras Novelle K/ein Leben vor dem Tod; die Protestschrift Ich, Europa und der Stier und zu guter Letzt Die Todesvögel Salazars, eine Übersetzung seines portugiesischen Theaterstücks O PIDE. 

Derzeit unterrichtet Miguel Oliveira als Professor im Bereich Tourismus am ISG, Lissabons innovativer Business & Economics School.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert