Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit

Text an einer Hauswand in Lissabon»Mir geht es schon besser, danke.« · © Andreas Lahn

Portugal zwischen Coronavirus und Gedenken an die Nelkenrevolution    von Catrin George Ponciano

> Am 25. April 2020 marschierte in Lissabon am Nachmittag ein älterer Senhor mit geschulteter Nationalflagge die Avenida da Liberdade entlang. Die Siebzig hat er längst überschritten. Seine Jugend ist von ihm fortgerückt. Seine Enkel sind erwachsen. Ganz allein marschiert der Senhor mit grauem Anzug bekleidet, die Prachtallee entlang. Von der Praça dos Restauradores am südlichen Ende bis zur Rotunde Marquês de Pombal. Auf der Allee schlagen die Bäume  aus, ihr zartgrünes Blätterdach spendet den kunstvoll gelegten kopfsteingepflasterten Parkwegen Schatten. Dennoch: Zärtlich blinzelt Sonnenlicht durch das Laubenzelt, tanzt über den Kopfstein und über den Asphalt auf die Fahrbahn. Obwohl es Samstag ist, obwohl der Frühling mit strahlendem Sonnenschein ins Freie lockt, ist der Boulevard leer. Kein Auto weit und breit, kein Spaziergänger, die Café-Kioske bleiben geschlossen. Lissabon in Zeiten von Corona. Die Bürger bleiben zu Hause. 
Der allein auf der Avenida da Liberdade marschierende Senhor bleibt nicht lange unentdeckt. Er wird fotografiert, von Anwohnern, vom Balkon, aus dem offenen Fenster: Sein Konterfei mit Flagge reist unzählige Male virtuell um die Welt. Ein Hoffnungsträger am diesjährigen Gedenktag, während der weltweiten Pandemie, inmitten des menschenleeren Stadtzentrums von Lissabon, ein Idol. Stellvertretend für Millionen Portugiesen in Portugal und die Ausgewanderten weltweit, in Gedenken an die Befreiung vor 46 Jahren, vom zuvor herrschenden 46 Jahre lang andauernden diktatorischen Joch. Er marschiert nicht in irgendeiner Straße Lissabons, nein, er schreitet die Freiheitsallee entlang, die ihren Namen trägt in Gedenken an die Wiedererlangung der monarchistischen Souveränität am Ende der Iberischen Doppelunion im Jahre 1668. An der Restaurationssäule haben der Senhor und seine Geistesgefährten am 25. April 1974 den Beginn der Zukunft gefeiert. Mit einem Lied auf den Lippen − Grândola Vila Morena − haben sie ihrem Freudentaumel über die künftige Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit singend Ausdruck verliehen.
Zehn Jahre nach der Nelkenrevolution, marschiert 1986 genauso wie dieser einzelne Senhor in diesem Jahr, ein anderer, ebenfalls ein Idol, an der Spitze des Gedenkmarsches. Sein Name lautet Zeca Afonso, der Liedermacher, der das Lied vom »braunen Dorf Grândola« komponiert und getextet hat. Es soll Mut machen, ein Trostlied sein. Frei nach dem Motto, niemand leidet allein. Zensiert wird das Lied, verboten, und Zeca Afonso inhaftiert, verhört, gefoltert und geschlagen. Dennoch, das Lied hat überlebt und ist zur Freiheitshymne avanciert. Seine Rede zur 10-Jahresfeier auf dem Boulevard  eröffnet Zeca Afonso mit den Worten. »Singt. Es ist nicht mehr verboten!«
In diesem Jahr am 25. April ist es verboten, sich auf der Straße zu treffen, verboten, gemeinsam zu marschieren, verboten, sich zu versammeln. Die Gedenkfeier an die Nelkenrevolution findet hinter verschlossenen Türen in geschlossenen Räumen im Parlamentarischen Saal statt, was zu einer tiefen Spaltung der öffentlichen Meinung führt. Obwohl im Fernsehen übertragen, findet das Gedenken an den Tag aller Portugiesen − getrennt von ihnen statt. Die in häuslicher Quarantäne Weilenden, die seit Wochen keinen persönlichen Kontakt mit ihrer Familie haben dürfen, die nicht an der Strand, in den Park, auf den Spielplatz, zur Arbeit gehen dürfen, die ihre Geschäfte nicht öffnen dürfen, fühlen sich plötzlich unfrei. Auf einen Nebenschauplatz ins Abseits gerückt. Doch Portugal hat sich an Zecas Rede erinnert − und an seinen Aufruf. »Singt!« Punkt 15 Uhr singt das gesamte Land das einst verbotene Marschlied für die Freiheit. 
In meinem Dorf im Algarve schaltet auf der Baustelle gegenüber der Kapo um 15 Uhr das Radio ein. Es knarzt und knackt im Lautsprecher, schlechter Empfang. Hier und da bemerke ich ein offenes Fenster. Nachbarn, alles Jüngere, die Arme auf das Fensterbrett gestützt, blicken sie teilnahmslos die Straße auf und ab. Aber niemand singt. Als «Grândola Vila Morena« im Radio erklingt, schließen einige ihre Fenster. Dennoch, zwei Straßen weiter, spielt ein Nachbar auf seiner Dachterrasse Gitarre das Gedenklied an Catarina Eufémia. Kaum ist die Grândola im Radio verhallt, knallen Kronkorken von Bierflaschen auf der Baustelle gegenüber und man dreht den Sender auf Heavy Metal.
Ich schließe das Fenster. Verwirrt. Hin und hergerissen zwischen Bewunderung für den Kampf des Volkes vor bald einem halben Jahrhundert und den aktuellen, vagen Gedanken an eine ungewisse, andere Zukunft. Noch befinden wir uns im Algarve auf der Transitstrecke zwischen vor und nach Corona, doch die Weichen stellen traut sich die politische Führungsriege bislang bloß vage. Die besungene Freiheit von 1974 schmeckt heutzutage anders. Frei sein bedeutet damals Wahlrecht für Frauen, regelmäßige Entlohnung, Vorsorge für das Alter für alle, Bildungsrecht, Gleichstellung der Frau, etc. Aber haben diese Werte noch Gültigkeit in der Gegenwart? Natürlich haben sie. Aber nicht allein. Bereits vor der Pandemie reicht der einst gemeinschaftlich erhobene Volkswille nicht mehr, um der jetzt heranwachsenden Generation eine freiheitliche Zukunft zu bieten. Die Begrifflichkeit bedarf einer neuen Defini­tion, adaptiert an die heutigen Anforderungen, denen junge Menschen gerecht werden müssen. Wer im Algarve im Tourismus arbeitet, also der Großteil der Bevölkerung, schätzt sich glücklich mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Alle anderen arbeiten saisonal mit befristeten Arbeitsverträgen, abgeschlossen mit Zeitarbeitsfirmen für fünf bis sieben Monate, zu Konditionen, die es jungen Menschen nicht erlauben, sich eine eigene Zukunft aufzubauen, weil sie es sich im Algarve nicht leisten können, allein eine eigene Wohnung zu unterhalten. Heirat, Hotel Mama oder Hypothek lauten die Alternativen. Aber welche Bank bewilligt einem Single ein Hypotheken­darlehen, wenn er nur einen sieben Monate gültigen Arbeitsvertrag, ein Nettoeinkommen unter 700 Euro und eine Arbeitslosenvergütung von fünf Monaten hat? 
Das ist die Situation vor Corona. Aktuell bleiben all diejenigen, die saisonal im Tourismus und Einzelhandel arbeiten, weiterhin zu Hause. Eine befristete Anstellung im laufenden Kalenderjahr ist so gut wie aussichtslos, was die individuelle Zukunftsperspektive doppelt einschränkt. Nach etlichen Gesprächen mit jungen Leuten aus anderen Gegenden Portugals, aus Regionen, die weniger wirtschaftlich abhängig sind von ausländischen Gästezahlen als im Algarve, öffnet sich ein ähnlich nachdenklich stimmendes Bild. Die Jungen fühlen sich von ihrer Regierung im Stich gelassen. Aber gebührt denn nicht gerade den jungen Portugiesen eine würdevolle, auf den Begriffen Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit aufbauende Zukunft, wage ich zu fragen. Wofür ihre Vorväter gekämpft haben? Dass meine jüngeren Nachbarn am 25. April dieses Jahres nicht singen und die Fenster schließen, ist traurig. Sie sind enttäuscht. Und schweigen. Sie stehen nicht auf, wie ihre Vorväter, sie melden sich nicht zu Wort, sie organisieren sich nicht. Sie fordern ihr Recht auf ihre Zukunft nicht ein. Niemand spricht laut über die soziale Benachteiligung durch stockende Lohnpolitik. Niemand beschwert sich über die alljährliche Jagd nach einem unangemessen bezahlten Saisonjob. Niemand bietet kurzfristig Lösungsansätze − weder die Politiker noch die Betroffenen. Wer aber Freiheit für sich beansprucht, darf Rechte einfordern, laut, nachdrücklich, argumentativ stringent. Später, wenn der Weg geebnet ist, kann man wieder singen und marschieren, damit meine und deine Freiheit wieder zusammenfinden − zu unserer Freiheit!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert