Buch »Das Lissabon des Fernando Pessoa«

Foto von Fernando PessoaFernando Pessoa · © Wikimedia Commons

Auf Pessoas Spuren: Zu Catrin George Poncianos Buch »Das Lissabon des Fernando Pessoa«    Fragen von Andreas Lahn

> Was interessiert dich als deutsche Schriftstellerin an deinem portugiesischen Kollegen Fernando Pessoa?
Catrin George Ponciano: Das literarisch Revolutionäre in Pessoas Buch der Unruhe hat mich vom ersten ­Lesen an, gefesselt. Die Idee, einen Hilfsbuchhalter durch Lissabon laufen zu lassen und dessen Gedanken zum Drama im Menschen zwanzig Jahre lang zusammenzutragen, um die Gesellschaft Portugals im Umbruch zu sezieren, nenne ich genial. Diese analytisch poetische Genia­lität des Fernando Pessoa interessiert mich. Von ihm lerne ich als Deutsche, Portugal und sein Volk mit gedanklich gereinigter Sicht zu betrachten. 

Es gibt etliche Texte und Bücher über Fernando Pessoa. Welche Lücke schließt dein Buch?
Ein befreundeter Dichter sagte zu mir: »Catrin! Noch ein Pessoa-Buch?« Stimmt, es gibt unzählige Werke über Pessoa, und alle nähren sie einen eigenen literarischen oder geistigen Aspekt. Ich zum Beispiel erzähle von Pessoas Leben und von den Menschen, die in seinem Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben. So entstehen Szenen für ein zeitgeschichtliches Bild, vor der Kulisse Lissabons zusammengefügt, die die LeserInnen durch Das Lissabon des Fernando Pessoa geleiten. Hierfür habe ich mich auf Pessoas Schulter gesetzt und einen Spaziergang durch sein Lissabon zwischen 1905 und 1935 gewagt. Dieses Wagnis teile ich in meinem Buch mit meinen LeserInnen und möchte gleichzeitig deren Reiselust auf Lissabon und ihre Leseneugier auf Pessoa stimulieren.

Mit seinen Heteronymen erfindet Pessoa über 80 weitere Ichs, die er mit eigenen Lebensläufen, Horoskopen und Eigenschaften ausstattet. Du schreibst: »Zu jeder Situation entsteht der nötige Gefährte, und Fernando verleiht ihm Identität. So ist er niemals wieder allein.« Die Lösung gegen vermeintliche oder echte Einsamkeit?
Als Autorin fühle ich mich bestimmten Schriftsteller-Vorfahren verbunden. In Portugal sind das Florbela Espanca und Fernando Pessoa − zwei bekennende Einzelgänger. Diese Art von Einsamkeit kann man mittels einer nach innen gewandter Realität steuern, und bleibt getrennt von der tatsächlichen. Das verlangt jedoch Durchlässigkeit oder anders gesagt: Alles ist Reflexion, die aus der nach innen gewandten Realität nach außen drängt und sich Gehör verschafft. In Pessoas Fall, vermute ich, war das Erfinden anderer Ichs zunächst ein Experiment. Später fungierten seine Heteronyme als elementar ­angeordnete Wächter für sein Innen-Ich. Pessoa fahndete immerzu nach dem Drama im Menschen, dabei trug er es zeit­lebens in sich, wollte das aber unbedingt verbergen. Sein emotionales Defizit, sich nicht über sich selbst mitteilen zu können, führte zwangsläufig in selbst erwählte und in den letzten Lebensjahren in schier unerträgliche Einsamkeit.

An welchen Orten in Lissabon hat Fernando Pessoa zur Ruhe gefunden, jenseits von Cafés, Restaurants und Kneipen?
In Lissabon konnte Pessoa nirgends Ruhe finden, daran hinderte ihn seine ausgeprägt vegetative Wahrnehmungsfähigkeit. Wirklich Ruhe finden konnte Pessoa meines Erachtens bloß nach literarisch exzessiven Ergüssen »für die Truhe«, sobald er in einen Erschöpfungsschlaf fiel.

Kurz nach einem Streit mit Pessoa nimmt sich der Dichter-Kollege und Freund Mário de Sá-Carneiro in Paris das Leben. Was bedeutet dieser Tod für Fernando Pessoa?
Mário de Sá-Carneiro schrieb in seinem Abschiedsbrief: Des Dichters Hände haben den Wettlauf gegen den Tod verloren. Für Pessoa ein Trauma, der Verlust des Freundes plus dessen letzte Worte. Ein prägender Moment, in dem Pessoas innere Realität auf die einzig gültige Lebenswahrheit trifft, die ihm ausgerechnet sein jemals bester Freund posthum als Botschaft hinterließ, und Pessoa sozusagen aus dem Jenseits noch den Spiegel der eigenen Endlichkeit vorhielt. Darüber ist Pessoa nie hinweggekommen.

Warum hat Pessoa die Beziehung zu seiner einzigen großen Liebe Ophélia Queiroz nach nur wenigen Monaten beendet?
Als Dichter fühlte Pessoa sich verpflichtet, seiner Berufung zu folgen. Es sei ein Diktat eines höheren Wesens, sagt er. ­Einerseits. Meines Erachtens war ihm bewusst, dass er Ophelia nicht gänzlich glücklich machen konnte, denn er würde sich immer für seine Berufung entscheiden. Ergo musste er Ophelia freigeben − aus Liebe −, um ihr nicht das Grundrecht auf Glück zu rauben und auch, um sich selbst treu zu bleiben.

Pessoa hat von Diktator Salazar eine Literaturauszeichnung angenommen, den Antero de Quental-Preis. Aus Eitelkeit oder unter dem Kalkül, danach freiere Hand in der Wahl seiner Worte zu haben?
Tja, darüber spekuliere ich ebenso, denn Pessoa hat noch bis kurz vor seinem Tod regelmäßig Plädoyers veröffentlicht, in denen er das herrschende politische System heftig kritisierte. Gezeichnet mit fremden Namen aus seinem Pessoarium. Das war sicherlich Kalkül. Ein Heteronym kann schließlich nicht zensiert oder festgenommen werden, denn es existiert physisch nicht. Bestimmt wollte Pessoa weitere Werke unter eigenem Namen veröffentlichen, den initiierten Modernismus in Schwung halten, und sich ein literarisches Denkmal setzen. Seine humanistische Haltung im Estado Novo zu vertreten und gleichzeitig weiterhin als Poet anerkannt zu sein, glich einem Spagat, der ihm, davon bin ich überzeugt, etliche schlaflose Nächte bereitet hat. 

Welche Bedeutung hat Fernando Pessoa im Portugal von heute? Können gerade junge Menschen aus seinen Texten etwas für das Leben lernen?
Literatur ist das einzige Human-Kultur­erbe, woraus wir nie aufhören werden zu lernen. Denn sie setzt sich ein für das freiheitliche Denken aller. Wie die VerfasserInnen heißen, ist unwesentlich. Wesentlich ist eine bewusste Auseinandersetzung mit Inhalt und Kontext. Von Pessoa können junge LeserInnen lernen, Situationen in mehreren Dimensionen zu beleuchten, ohne zu einer Schlussfolgerung kommen zu müssen. Jeder Gedanke verdient gebührend Beachtung. Ein Fazit, das Mut, Diversität und Respekt in der Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer beschert. Was ein bereicherndes Motto für Portugal ist, im Grunde genommen überall auf der Welt gilt.

Lissabons Charme besteht damals wie heute auch aus dem faszinierenden Licht, das die Stadt in immer neue Stimmungen taucht. Warum bloß sind die Fotos des Buches »nur« in Schwarzweiß und nicht in Farbe gedruckt?
Die Lektüren in der Wegmarken-Reihe der Edition A·B·Fischer Berlin sind durchgehend Schwarzweiß konzipiert. Das professionelle Auge hinter der Kamera heißt Angelika Fischer, und sie ist die Co-Verlegerin in der Edition A·B·Fischer. Ihrer lebenslangen Erfahrung als Schwarzweiß-Fotografin verdanken alle Wegmarken ihre visuellen Begleiter.

Als Teile von Pessoas Nachlass die berühmte Truhe verlassen und als »Buch der Unruhe« 1985 auf Deutsch erscheinen, wird dies als »das traurigste Buch Portugals« angekündigt. Ich empfinde es eher als tiefsinnigen Ratgeber für alle Lebenslagen. Was denkst du über diese Text- und Gedankensammlung?
Da bin ich völlig bei dir. Ich gestehe: Pessoas Buch der Unruhe steht stets griffbereit und beschert mir exakt die Ruhe, die ich brauche, um mir Gedanken über die Welt zu machen.

Für deinen Kriminalroman »Leiser Tod in Lissabon« hast du den Wittwer-Thalia-­Debütkrimipreis gewonnen. Herzlichen Glückwunsch! Ich finde, Kommissarin Dora Monteiro hat lange genug auf der faulen Haut gelegen. Wann nimmt sie ihre Arbeit wieder auf?
Wenn ich den Preis am 1. Oktober 2021 in Stuttgart entgegennehme und danach wieder in Portugal ankomme, beginne ich das Manuskript für den zweiten Band der Dora Monteiro ermittelt Portugal-Noir-­Reihe. Der nächste Band erscheint im Spätsommer 2022 bei Emons. Im nächsten Fall ermittelt Dora an der paradiesisch blauen Küste Portugals. Dort wird sie sorgsam gehütete pikante Episoden aufdecken, eine brisante Vertuschungsaffäre neu aufrollen, ihrer Jugendliebe begegnen und ihren Nachfolger bei der Kripo impertinent nerven. Wo es die ­leckersten Muscheln, den besten Fisch und süffigen Wein zum Genießen gibt, erfahren die LeserInnen unterwegs. Und natürlich ist Doras Maskottchen, der Rabe, mittendrin dabei.

Buch Cover »Das Lissabon des Fernando Pessoa«

Buch Cover »Das Lissabon des Fernando Pessoa« · © Verlag A · B · Fischer


Catrin George Ponciano
Das Lissabon des Fernando Pessoa
mit Fotos von Angelika Fischer
Verlag A ·B Fischer · 2021 · 13,5 × 21cm
64 Seiten · ISBN 978-3-9481-1407-7 · 16 €

Zur Website von Catrin George Ponciano

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