Alentejo: Unterwegs zwischen Estremoz und Vila Viçosa • von Dr. Ingolf Wernicke
> Wem trockene Hitze von 35 bis 40 Grad nichts ausmacht und wer in Portugal in der Hauptreisesaison im Hochsommer einmal abseits der überfüllten Strände in den touristischen Zentren und Städten an der Algarve und der Atlantikküste auf Entdeckung gehen möchte, dem sei eine Reise in den östlichen Alentejo, in die Region von Estremoz, Borba und Vila Viçosa, empfohlen. Dort findet man Orte, die von der Geschichte Portugals erzählen − inmitten einer hügeligen Landschaft, ausgedehnten Wein- und Olivenbaumplantagen, zahlreichen malerischen, kleinen Städten und Dörfern mit historischen Bauten wie Kirchen, ehemaligen Klöstern, Platz- und Brunnenanlagen, vielen Burg- und Befestigungsanlagen.
Die Kleinstadt Estremoz mit etwa 8.000 Einwohnern ist dafür ein Beispiel. Sie liegt knapp 50 Kilometer nordöstlich von Évora in der Region Alto Alentejo und bietet einen guten Ausgangspunkt für das Kennenlernen dieser Region, die sich bis zur spanischen Grenze nach Elvas erstreckt.
Estremoz gliedert sich in eine auf einer Anhöhe gelegene Oberstadt mit malerischen Gassen, die noch etwas maurisch wirken, sowie eine seit dem 16. Jahrhundert entstandene, von Stadtmauern umgebene Unterstadt, deren Mittelpunkt ein sehr großer Marktplatz, der Rossio Marquês de Pombal, ist, auf dem Verkaufsstände zu finden sind und auf dem auch am Samstag Markt abgehalten wird. In der Nähe dieses zentralen Platzes befindet sich der «Lago do Gadanha», eine große Brunnenanlage mit einer Saturn-Statue aus dem Jahr 1688, an den sich weitere Quartiere der Altstadt anschließen. Das Rathaus von Estremoz befindet sich in einem 1698 errichteten Kloster, dem ehemaligen Convento de Congredados. Nördlich des Rossio liegt der Convento São Francisco aus der Zeit des Königs Afonso III. aus dem 13. Jahrhundert, in dem König Pedro I. 1367 starb. Seit der Säkularisation 1834 wird das Kloster als Kaserne genutzt. Gegenüber liegt der Palácio Tocha aus dem 17. Jahrhundert mit auf Azulejos dargestellten Szenen des Unabhängigkeitskrieges Portugals gegen Spanien.
Die Hauptattraktion von Estremoz ist jedoch das Kastell aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit einem wuchtigen 27m hohem Bergfried. Die Burg war im 14. Jahrhunderts der Königspalast, in dem sich zeitweise König Dinis I. mit seiner Gemahlin aufhielt − der heiligen Isabell, die hier 1336 verstorben ist. In der Nähe der Kirche erinnert eine Skulptur an die Königin Isabell, die im Klarissenkloster in Coimbra bestattet worden ist. Heute befindet sich im ehemaligen Königspalast der Burganlage eine luxuriöse Pousada. Schräg gegenüber des Bergfrieds wurde 1559 die dreischiffige Kirche Santa Maria do Castelo errichtet, in der zwei Marienbilder von El Greco erhalten sind. An den Kirchenbau schließt sich ein in späterer Zeit, im manuelistischen Stil, umgebauter Audienzsaal an.
Estremoz hat aber insbesondere aufgrund seiner Marmorsteinbrüche Bekanntheit in aller Welt erlangt. Die alentejanische Stadt wird heute auch als cidade branca, die Weiße Stadt, bezeichnet.
In zahlreichen Steinbrüchen in der Umgegend wird Marmor als Baumaterial für Häuser, Fliesen, Inneneinrichtungen, Fassadenverkleidungen und auch für Grabanlagen abgebaut. Die Firmen, die diese Steinbrüche betreiben, exportieren Marmor in allen gewünschten Formen und Größen. Estremoz-Marmor, der von Natur aus cremefarben bis rosa ist und auch Schattierungen haben kann, spielt eine äußerst wichtige Rolle in der portugiesischen Steinindustrie. Seit vielen Jahren zählt er zu den meist exportierten und auf allen großen und kleinen Märkten der ganzen Welt bekanntesten portugiesischen Gesteinen.
Auch auf den Internetseiten deutscher Importeure, insbesondere für Treppen- und Bodenfliesen sowie Küchen- und Bad-Ausstattungen wird der Marmor aus Estremoz als Baustoff erster Qualität angepriesen.
In Estremoz trifft man schon direkt am Stadtrand und auch weiter außerhalb auf zahlreiche Marmorsteinbrüche, die man oft schon links und rechts der Straßen an den Baggerkränen sowie den weiß leuchtenden Wald- und Wiesenwegen erkennen kann. Es lohnt sich, die Steinbrüche zumindest von oben zu besichtigen. Man muss nur vorsichtig sein, da Marmorbrüche Firmen- bzw. Privatgelände sind und oftmals nicht durch Absperrungen oder Zäune gesichert wurden. Mittlerweile gibt es in der gesamten Region auch zahlreiche touristische Angebote, Museen, Ausstellungen und geführte Touren von zahlreichen örtlichen Agenturen zum Thema Marmor.
Möchte man sich jedoch individuell einen Überblick über die einst über 200 Marmorsteinbrüche verschaffen, sollte man einfach eine Rundfahrt durch das Dreieck Estremoz—Borba—Vila Viçosa machen.
Das kleine Städtchen Borba liegt circa 15 Kilometer von Estremoz entfernt, ist etwas kleiner und besitzt eine sehr hübsche Altstadt, im Zentrum mit einer Burganlage, die von starken Mauern mit Stadttoren umgeben ist. Auch in Borba gibt es zahlreiche Sehenswürdigkeiten in der Stadt wie z. B. den Praça do Cinco de Outubro mit einem Rathausbau von 1797 und einer Pfarrkirche. Von dem Marmorabbau hier aus der Gegend zeugt die Fonte das Bicas, eine prächtige Brunnenanlage von 1781, die inmitten einer Grünanlage liegt. Die meisten Portugal-Kenner denken bei Borba aber in erster Linie an den Weinanbau, an Adega de Borba, an Marques de Borba, an Gallitos und viele andere Marken, wenn sie den Namen der Stadt hören. Weitere überregional bekannte Produkte aus Borba sind Olivenöl, Wurstwaren, die Enchidos de Borba und Käsespezialitäten.
Der Weg führt weiter in das benachbarte Vila Viçosa, wo es ebenfalls zahlreiche Marmor-Steinbrüche gibt. Während man in Estremoz eher ältere Steinbrüche im Tagebau findet, die teilweise schon aufgelassen sind, kann man in der Umgegend von Vila Viçosa viele neuere Steinbrüche finden, deren Abraumhalden man schon kilometerweit erblicken kann. Viele Hügel sind durch den Abraum entstanden und mit großen Steinquadern minderer Qualität oder auch anderen Gesteinsarten überdeckt, so dass man den Eindruck hat, durch eine Mondlandschaft zu fahren. Viele Steinbrüche in der Region von Vila Viçosa haben ein gewaltiges Ausmaß und reichen mit einer senkrechten Steilkante bis über 150 Meter in die Tiefe. Sofern es möglich ist, lohnt es sich auf jeden Fall einmal von oben in die riesigen Abbaugruben hineinzuschauen.
Der architektonische Hauptanziehungspunkt des kleinen Städtchens Vila Viçosa ist jedoch der Paço Ducal, der Palast der Herzöge von Bragança. Im Stil der italienischen Renaissance wurde er mit einer hundert Meter langen Fassade aus Marmor ab 1501 erbaut. Er diente dem portugiesischem König João IV. und seinen Nachfolgern als Palast und wurde, obwohl Lissabon die Hauptstadt war, von den Familienangehörigen des Hauses Bragança häufig besucht. Im Innern kann man Deckengemälde, Ahnenbilder, Azulejos aus dem 17. Jahrhundert, Wandteppiche, Porzellan, Rüstkammern und vieles andere besichtigen. Heute gehört der Palast zu einer Stiftung und beherbergt neben den soeben beschriebenen Ausstellungsräumen auch die Bibliothek und das Archiv des Hauses Bragança. Vor dem Palast erstreckt sich der Terreiro do Paço, der Schlossplatz, der ursprünglich einmal eine Stierkampf-Arena gewesen sein soll. In seiner Mitte befindet sich ein Reiterstandbild mit König João IV. An der Ostseite des Platzes steht die Kirche eines ehemaligen Augustinerklosters, die Igreja dos Agostinhos, wo die sterblichen Überreste der Herzöge von Bragança ruhen.
Als ein weiteres historisches und architektonisches Highlight in der Nähe ist noch das kleine Städtchen Alandroal zu erwähnen, das etwa 10 Kilometer von Vila Viçosa entfernt liegt. Hier kann man eine eindrucksvolle Burganlage besichtigen, die auf Resten einer aus dem 13. Jahrhundert von König Dinis erbauten Befestigung errichtet wurde. Außerdem gibt es ebenfalls eine eindrucksvolle Brunnenanlage auf dem Marktplatz, die mit Marmor aus der Region erbaut wurde.
In einem Gespräch mit einem einheimischen Portugiesen in Estremoz wurde mir auf meine Frage, ob das Geschäft mit dem Marmor denn floriere, erwidert: »Leider nicht, denn es gibt immer weniger Diktaturen auf der Welt! Die Hauptabnehmer unseres Marmors waren einst Nicolai Ceauçescu, der seinen Palast in Bukarest aus alentejanischem Marmor erbauen ließ, und auch Muammar al-Gaddafi in Libyen, der ebenfalls seine zahlreichen Paläste mit Marmor von hier errichten ließ.«
Obwohl man den Menschen vor Ort den Erhalt ihrer Arbeit, ein florierendes Geschäft mit dem Ausland und damit auch den Erhalt der Basis ihrer Existenzgrundlage wünscht, wäre die Forderung des Portugiesen aus Estremoz nach mehr »diktatorische Regierungen«, die auch etwas scherzhaft gemeint war, ein wohl doch etwas zu hoher Preis.