Über sein Leben und das Buch Os seus nomes • von Catrin Ponciano
> Ein Hederich sei er gewesen, schreibt José Saramago über sich. Ein wilder Rettich, auf Portugiesisch saramago. Der einstige Spitzname seiner Eltern, die als Landarbeiter in Zeiten des Hungers sich und ihre Kinder mit dem Verzehr von wilden Rettich und ihren würzigen Blättern ernährt haben, bürgt seit Jahrzehnten für Weltliteratur aus Portugal. Geboren am 16. November 1922 in Azinhaga, etwa einhundert Kilometer nordöstlich von Lissabon im Ribatejo bei Santarém, verbrachte der Junge José seine Kindheit und Jugend in Lissabon und abwechselnd auf dem Land.
Josés Vater war ein Kriegsveteran des Ersten Weltkrieges und tauschte das Landleben gegen eine berufliche Zukunft als Schutzpolizist in der Hauptstadt ein. Die Familie zog 1924 in die Kapitale um. Obwohl der Alltag in Lissabons Penha da França-Viertel ein Stück weit leichter wirkte als zuvor auf dem Dorf, erwartete die Familie dennoch keine nennenswerte wirtschaftliche Entlastung. Bittere Armut hat Josés Jugend begleitet, doch in seinem Kopf lebt die Erinnerung an Menschen fort, die unvorstellbar wenig besaßen, aber enorm viel Mitgefühl zeigten, verwurzelt in ihrer Heimat waren und keinerlei Anbindung an die Geschehnisse der Welt zeigten, wie er in Palavras para uma Cidade schreibt.
Tief berührt von dieser in den ärmsten Vierteln Lissabons erfahrenen Mitmenschlichkeit, empfängt Saramago den Samen des empathisch differenzierten Beobachters. Seinen Blick weitet er mit literarischen Sprenkeln aus der Vergangenheit und Gegenwart, aus der Nationalbibliothek und aus internationalen Literaturen, und schärft ihn auf unausgesprochene Wahrheiten. Dieser geschärfte Blick zeichnet ihn zeitlebens als Mensch und als Autor aus, der jeden Vorhang der Scheinheiligkeit rigoros beiseite schob und aufschrieb, was er dahinter entdeckt hat. Es sind Menschen gänzlich ohne einen Funken Glück, von denen nicht einmal der Schwellenstein übrigbliebe. Wenn sie sterben, ist einfach alles vorbei, resümiert er beispielsweise in Pátio do Padeiro über Menschen, an den Rand der Gesellschaft geschoben, als würden sie gar nicht existieren.
Die Lebenslinie des Literaten ist ein Kaleidoskop aus Orten, Begegnungen und Reflexionen, die erst in Saramagos Kopf und dann mit Feder und Tinte zu Geschichten zusammengewebt werden. Ich folge seinen Spuren (auf Portugiesisch) in der von Alejandro Garcia Schnetzer und Ricardo Viel im April 2022 herausgegebenen Biografie SARAMAGO − Os seus nomes. Um álbum biográfico. Auf 350 Seiten im DIN A 4-Format erwarten mich jedoch mitnichten eine Fülle von einem Autor zu einer Chronologie aneinandergereihte Fakten des bislang einzigen portugiesischen Literaturnobelpreisträgers, nein, ich höre Saramagos eigener Stimme zu, wie er aus seinem Leben erzählt. Ihn höre ich − und keine außenstehende Stimme, die auktorial über ihn erzählt.
Das macht dieses opulente Werk zu einem ganz besonderen Lese-Erlebnis. Seite für Seite entblößt es, wer und was Saramagos Geist geformt und geprägt hat. Und so lässt er nachträglich noch einmal kompakt an allem teilhaben, was ihn von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter beschäftigt und vorangetrieben hat. Er führt die Lesenden zu seinen Themen, seinen Geschichten und seinen Figuren als säße man mit ihm am Schreibtisch und begleitet ihn bei seinen Überlegungen.
Den beiden Editoren gelingt es, die Komplexität eines Schriftstellerlebens in Gänze einzufangen und einen authentischen Spannungsbogen in der Wahrnehmung Saramagos von den Menschen, Ereignissen und Orten zu kreieren, die sein Leben und seine Arbeit markieren.
Bewundernd, kritisch, und geradezu hypnotisierend intensiv setzte Saramago sich mit der Literatur seiner VorfahrInnen und mit den Lektüren seiner ZeitgenossInnen auseinander, und bezieht deren Lebensumfeld in seine Reflexionen ein. Als berausche er sich an deren literarischem Antrieb, als absorbiere er die gesamte Bandbreite literarischer Ansätze. Jedes Werk ist seines Erachtens einzigartig und thematisiert Epochen und Ereignisse. Das ist schließlich die Aufgabe der Literaturen. Somit wundert es nicht, dass Saramagos Werk mit der Epoche vor, während und nach der Portugiesischen Revolution begann, wie er die historisch als Nelkenrevolution betitelte Revolte gegen die Diktatur nannte. Mit Nelken, erklärt er, revolutioniert niemand etwas und diejenigen, die daran Teil hatten, haben den Widerstand ganz sicher nicht blumig empfunden.
So ging Saramago dorthin, wo keine Nelken geblüht haben sondern das Aufbegehren, und schrieb seinen unvergessenen Roman Hoffnung im Alentejo in Lavre bei Montemor-o-Novo im Alentejo, wo die Geschichte spielt, und seine wahrhaftig nachempfundenen Figuren gelebt haben. Sein Debüt Levantado do Chão erinnert schmerzlich realistisch daran, wie es wirklich gewesen ist − vor der Revolution − und Saramago hält schriftstellerisch gnadenlos und gleichzeitig begnadet fabulös Wahrheiten darin fest. Ein Roman, der Geschichte schrieb und aktuell in sorgfältig aufbereiteten literarischen Fährtenrunden im Alentejo und in Lissabon zu den Originalschauplätzen führt. Ein Buch gegen das Vergessen. Der Grundstein seines Lebenswerkes.
Einmal im Leben sollte jeder Schriftsteller sich so groß wie Camões fühlen, gesteht Saramago, und verrät den Lesenden an dieser Stelle seiner Aufzeichnungen den innigen Wunsch eines jeden Autors nach Anerkennung. Nicht als Protagonisten seiner eigenen Geschichte sondern als Geschichtenerzähler seiner Epoche. Damit man sich erinnern wird. Später an gestern und an all die Menschen und ihre Schicksale.
Geständnisse vom Schreibtisch Saramagos erheben dieses biografische Album zu einem literarischen Kunstwerk, zu einer innovativen und gleichzeitig ästhetischen Spielart der literarischen Gattung Biografie. Ein gewichtiges Buch, überschrieben mit SARAMAGO, Os seus nomes, publiziert anlässlich des 100. Geburtstages des großen Literaten, der seiner Nachwelt ein literarisch einmaliges Erbe hinterlassen hat.
Doch davon handelt das Buch nicht. Das Opus preist weder etwas an noch wirft es mit Attributen um sich. Es ist ein nachdenklich stimmendes und deswegen ein Großes Buch.
Es führt die Lesenden behutsam ausgesucht zu Saramagos Wegmarken. Unterwegs erzählt die Lektüre von Saramagos Begegnungen, von seinen Gedanken zur politischen und sozialgesellschaftlichen Lage seiner Nation in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Seite um Seite ist es gefüllt mit Namen, von Frauen und Männern, von FreundInnen, KollegInnen und Angehörigen, die dieser großartigen Lebensenzyklopädie ihren Geist schenken. Die Lesenden bereisen mit Saramago gemeinsam dessen persönliche und intime Gedankenwelt und springen von einem Jahrzehnt zum nächsten, von einem Kontinent zum anderen, von einer Begegnung zur nächsten. Beim Durchblättern und sich Hineinversetzen in Saramagos hinterlassene Spuren scheint es, als stehe er auf von den Toten, die ihn am 18. Juni 2010 zu sich genommen haben.
Dank Saramagos Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern und den chronologischen nach Jahren zugeordneten Heften sowie anhand seiner weltumspannenden Korrespondenz mit Literaten, Künstlern, Musikern und Politikern ist es den Editoren gelungen, den Lesenden die Tür zu Saramagos Kosmos zu öffnen. Wer Saramago liest, versteht Portugal. Wer SARAMAGO − Os seus nomes liest, versteht zum einen Saramagos persönliches literarisches Jahrhundert und gleichzeitig das eigene, denn im Grunde genommen ist es die Epoche, die uns aktuell alle angeht.
MEHR INFOS
- SARAMAGO – Os seus nomes. Um álbum biográfico; 350 Seiten mit Farbfotografien und einem Vorwort des derzeitigen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres; Edição de Alejandro Garcia Schnetzer e Ricardo Viel
© Porto Editora; © Fundação Saramago
ISBN 978-972-0-03164-8 – Preis: 40 € - Literarische Spurensuche im Alentejo und in Lissabon „Roteiro Literário Levantado do Chão” – Homepage – Roteiro Literário Levantado do Chão (roteirolevantadodochao.pt)