Schlagwort: portugiesischer Film

»Kommen und gehen«: Fragen an Filmemacher Dídio Pestana

Foto vom 1. Mai in Kreuzberg (Berlin)

Guincho, Corvo und Berlin spielen in Dídio Pestanas Leben eine besondere Rolle • Fragen von Andreas Lahn

> Woran denken Sie, wenn Sie Autospuren im Schnee sehen?
Schnee fasziniert mich. Ich denke das kommt daher, dass ich in einer Stadt geboren wurde, wo es so gut wie niemals schneit. Ich mag Autospuren im Schnee, die man in der Regel nach dem ersten Schneefall des Jahres sehen kann.

Welche Gefühle haben Sie am Strand von Guincho?
Guincho ist ein ganz besonderer Ort. Das war schon immer so. Ich denke, es liegt daran, dass man ganz in der Nähe Lissabons einen Platz findet, wo sich das Meer in der Ferne verliert und die pure Natur dominiert, die Stadt und Gedanken reinigt.

Im Film sagen Sie an einer Stelle, dass mit der Distanz zu Portugal die Familie wichtiger werde. Welche Bedeutung haben Ihre Eltern für Sie?
Die Entfernung bringt uns dazu, die Dinge kritischer zu sehen und das zu schätzen, was wir nicht bei uns haben. Die Familie ist für mich der einzige Haltepunkt außerhalb der Blase, in der wir alle irgendwie leben. Es ist der Ort, wo wir konträre Meinungen hören können, auch wenn sie uns manchmal schockieren. Und die Tatsache, dass wir inmitten von all dem zusammenleben müssen, macht die Familie zu einem sicheren Hafen, in den wir uns zurückziehen können, wenn alles einmal schief laufen sollte.

Hat es Sie überrascht, dass ein Film mit vielen persönlichen, fast intimen Momenten beim Filmfest in Locarno 2018 für einen Preis nominiert wird?
Das mein Film für das Festival nominiert wurde war zweifellos eine Überraschung und die Zulassung als Wettbewerbsbeitrag eine noch Größere. Doch überraschend ist es nicht, dass ein sehr persönlicher Film prämiert wurde. Das ist nichts Neues. Wenn wir an Filmemacher wie Jonas Mekas oder Ross McElwee denken, sehen wir, dass es ein Genre ist, das bereits in den 60er und 70er Jahren aufkam, als das Filmen für Jedermann zugänglicher wurde.

In Ihrem Film ist es wie im alltäglichen Leben: Menschen kommen, um früher oder später wieder zu gehen, man beendet Altes, um Neues zu beginnen – ein ewiger Kreislauf von Finden und Verlieren. Dieses Hin und Her ist nur zu ertragen, wenn man sich selbst nicht so wichtig nimmt, oder?
Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hat, dass ich mich wichtig nehme oder auch nicht. Ich nehme jeden Tag sehr ernst, denn es gibt nur wenige, die wir zum Leben haben. Aber die Zyklen sind Teil des Lebens, Trauer und Freude, Menschen, die nicht mehr da sind, andere, die neu dazu kommen. Es ist auch in diesem Kreislauf, in dem wir wachsen und die Dinge intensiv durchleben. Das alles gehört dazu.

Nachdem Sie Ihren eigenen Horizont im Jahre 2006 »verloren« haben, scheinen Sie in Berlin zu sich selbst gefunden zu haben. Was macht Berlin so besonders für Sie?
Berlin ist aus vielerlei Gründen etwas Besonderes für mich. Ich bin hierher gezogen, weil ich mich vom ersten Tage an wie daheim gefühlt habe. Es gibt nur wenige solcher Orte. Orte, an denen dich die Leute nicht nach dem beurteilen, was du vorgibst zu sein, sondern nach dem, was du tust, wo es Leute gibt, die motiviert sind, Dinge zu tun, und nicht von Beginn an nach Problemen zu suchen, wo der Tatendrang allgegenwärtig ist. Es ist keine perfekte Stadt, die es nirgendwo gibt. Man kann sich auch leicht verrennen, durch die Alltagsabläufe treiben lassen, sich verlieren im erdrückenden Grau der Wintertage und das Haus nicht verlassen. Aber andererseits liebe ich diese bipolare Seite der Stadt, den Gegensatz zwischen Winter und Sommer.

«Sobre tudo, sobre nada» ist ein Film ohne gesprochene Dialoge. Sie haben alle Texte selbst geschrieben. Träumen Sie von einem Film komplett ohne Text und Sprache, nur mit Geräuschen, in dem quasi die Bilder für sich selbst sprechen?
Alle Filme erzählen auf ihre Art Geschichten. In meinem Fall war der Text ein grundlegender Bestandteil. Wenn ich an meine nächsten Projekte denke, so mache ich mir keinen Kopf, ob der Film ohne Text und Sprache oder auch mit sein wird, ob nur die Bilder die Geschichte erzählen oder es ganz anders sein wird. Worüber ich nachdenke ist es, die beste Art und Weise zu finden, sich der Geschichte zu nähern und einen Film zu machen, nach dem diese Geschichte verlangt.

Wenn man einen Film über »Alles und nichts« dreht, kommt Vieles zu kurz und nichts hat genug Raum, um sich zu entfalten. Haben Sie Pläne für Konkreteres?
In diesem Film ging es vor allem darum zu zeigen, dass Dinge kommen und gehen, dass Zeit vergeht. Ich wollte kein Thema besonders herausstellen, wollte alles festhalten. Und wenn man das vorhat, begreift man sehr schnell, dass es nicht geht. Das war es, was ich für diesen Film wollte, dieses unbestimmte Universum, dieses Vergehen von Tagen. Was die Zukunft betrifft – mal sehen.

Die kurzen Sequenzen über den Kolonialismus in Guinea Bissau, über den 25. April und die Demonstrationen gegen Faschismus in Portugal zeigen Ihr Interesse für die portugiesische Geschichte. Können Sie sich vorstellen, aus solchen »historischen Themen« einen Film zu machen?
Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, diese Themen anzufassen und zu bearbeiten. Mich hat die Geschichte Portugals immer sehr interessiert und vor allem alles das, was bisher dafür getan wurde, den Mantel der Verschwiegenheit aufzudecken, den der Faschismus in Portugal über die Geschichte gelegt hatte. Ich wurde noch mit Geschichtsbüchern unterrichtet, in denen die Portugiesen als Helden dargestellt wurden.Deshalb halte ich die von Historikern, Künstler und Filmemachern geleistete Aufklärungsarbeit für eine realistische Geschichtsbetrachtung des portugiesischen Kolonialismus für immens wichtig. Und auch deshalb, so meine ich, bin nicht ich prädestiniert dafür, zumindest nicht als mein zentrales Thema.

Reisen ist immer eine Mischung aus Flucht und Abenteuer. Wie schaffen Sie den Spagat zwischen spannenden Begegnungen in anderen Ländern und der nötigen Ruhe für konzentriertes Arbeiten?
Es ist eine Mischung, die nicht immer einfach ist. Ich denke, was mir immer noch zu schaffen macht, sind die Tage vor der Abreise und die Tage nach der Ankunft. Aber dann geht es vorbei und überall, wo ich dann bin, lässt es sich arbeiten. Natürlich arbeite ich weiterhin am konzentriertesten in Berlin.

Und wenn Sie wirklich Ruhe brauchen, reisen Sie nach Corvo?
Ich möchte bald wieder nach Corvo reisen, denn ich war lange nicht dort. Aber um mich zu erholen, gibt es nichts Besseres als meine Wohnung in Berlin.

»Alles und nichts« – Über den Filmemacher Dídio Pestana

Foto von Dídio Pestana und einigen FreundInnen

Zur Geschichte von Dídio Pestanas ungewöhnlichem Film «Sobre tudo – sobre nada» • von Gert Peuckert

> Dídio kenne ich seit Beginn der 2000er Jahre. Damals studierte er portugiesische Sprache und Literatur an der Universität Lissabon und nahm Unterricht bei dem Jazz-Gitarristen Mário Delgado an der renommierten Musikakademie Hot Clube de Portugal.
Mit seinem Freund Gonçalo Tocha gründete er die Band «Lupanar», deren Sängerin Ana Bacalhau heute mit ihrer Band «Deolinda» viele Konzerte im In- und Ausland gibt.
Dídio verkörpert eine neue Generation von jungen Künstlern aus Portugal, die überall in Europa und der Welt kreativ unterwegs sind, aber weiterhin eine starke Bindung zu ihren portugiesischen Wurzeln haben. In seinem Film schildert er durch die Linse einer Schmalfilmkamera seinen Alltag als Portugiese und Weltenbummler nach seiner Umsiedlung im Jahre 2006 von Lissabon nach Berlin. (www.sobretudosobrenada.com)
Man spürt beim Betrachten seiner Aufnahmen die Freude und Lust am Leben, die Liebe zu Familie, Freunden und dem neuen Umfeld in Berlin-Kreuzberg, das für ihn zunehmend zum Lebensmittelpunkt und vorübergehendem Zuhause wird.
Der preisgekrönte Dokumentarfilm im Super-8-Format zeigt in Tagebuchform das abwechslungsreiche Lebensjahrzehnt eines jungen portugiesischen Menschen inmitten seines Alltags, ein kosmopolitisches Leben mit Freundinnen und Freunden, das immer wieder von Reisen und Aufenthalten in verschiedenen Ländern Europas, Afrikas und Lateinamerikas bereichert wird.
Der Film ist zugleich ein persönliches Selbstporträt, das Einblicke in seine innerste Gedankenwelt gibt, die stetig den Bezug zu Portugal und seiner Familie finden − zum weiten Horizont am Strand von Guincho, wo alles seinen Anfang nahm − jenen Horizont am Cabo da Roca, den er nie aus seinen Augen verliert.
Wir bekommen einen Eindruck vom Leben einer neuen Generation junger portugiesischer Menschen in Deutschland, die frei von Zwängen hier ihre Selbstverwirklichung sucht und voll in die hiesige Gesellschaft integriert ist.
Didio wurde vom kreativen Freundeskreis in seinem neuen Umfeld in Berlin, insbesondere aber seinem langjährigen Freund und künstlerischen Partner, dem portugiesischen Musiker und Filmemacher Goncalo Tocha, für die Arbeit an seinem Dokumentarfilm inspiriert. Beide haben auch schon als Musiker in dem Musikduo «Tochapestana» zusammengespielt und sind erfolgreich in Berlin und Portugal aufgetreten. (Weitere Informationen auf www.tochapestana.com)
Gonçalo Tocha zählt inzwischen zu den profiliertesten portugiesischen Filmemachern und an zahlreichen internationalen Wettbewerben teilgenommen. Sein künstlerisches Hauptthema sind die Azoren. Im Jahre 2007 begann er mit der Produktion einer Dokumentation auf der Insel Corvo, von der auch seine Familie stammt. Es gelang ihm ein wunderbares Porträt vom Leben und dem harten Alltag der nur etwas mehr als 400 Einwohner zählenden kleinsten aller Azoren­Inseln mit autobiografischen Zügen zu schaffen. Sein Film «É na terra não é na lua» wurde 2011 auf dem internationalen Festival in Locarno und der Doclisboa 2011 ausgezeichnet.
In seinem bereits 2007 gedrehten Film «Balaou» dokumentiert er in beeindruckenden Bildern die Überfahrt von der Azoren-Insel São Miguel in einem Segelboot zum portugiesischen Festland. Zu beiden Filmen schuf Dídio Musik und Ton. All jenen, die sich für die Azoren begeistern und neben den Schönheiten der Natur mehr über das Leben und Denken der Inselbewohner erfahren wollen, sollten sich diese Filme anschauen. (https://dafilms.com/film/8464-it-s-the-earth-not-the-moon; https://www.cinema.de/film/balaou,4452561.html )
Die portugiesische Filmemacher-Szene hat sich in den letzten Jahren dynamisch entwickelt und auch international an Profil gewonnen. Viele junge Dokfilmer, so auch das Erstlingswerk von Dídio, erhielten und erhalten fachliche Unterstützung von der Künstlergemeinschaft Kintop in Lissabon. (www.kintop.pt). Ziel ­dieses Projektes ist die Förderung von kreativen Filmprojekten des neuen alternativen Kinos in Portugal und deren Verbreitung und Kommerzialisierung im Ausland. Das Künstler-Team von Kintop setzt sich in ihren filmischen Dokumentationen sowohl mit sozialen Alltagsproblemen als auch mit historischen Themen wie der Aufarbeitung des Wirkens der Geheimpolizei PIDE in den Jahren der faschistischen Diktatur auseinander.
So erzählt die Dokumentation «Luz Obscura» der portugiesischen Filmemacherin Susana de Sousa Dias die Geschichte der Familie des eingekerkerten Kommunisten Octávio Pato, die von der PIDE über viele Jahre beobachtet und verfolgt wurde. Der Film basiert auf Original­dokumenten der Geheimpolizei aus den Jahren 1926 bis 1974 und wurde von der Portugiesischen Kino-Akademie mit dem Preis Sophia 2019 geehrt.