Schlagwort: PIDE

Pássaros da morte

Foto des Buchcovers »Die Todesvögel Salazars«

Buchtipp von Andreas Lahn

> Miguel Oliveira ist 1979 in Hamburg geboren und u. a. durch seine Bücher über den amerikanischen Schriftsteller John Dos Passos bekannt. Die Todesvögel Salazars ist eine Tragödie in zwei Farcen, die den Opfern der portugiesischen Geheimpolizei PIDE gewidmet ist.

In der 1. Farce macht eine kleine Gruppe Dissidenten dem PIDE-­Spitzel Manuel Fernandes e Castro am 10.4.1974 im Tribunal da Boa Hora den Prozess und konfrontiert ihn mit den Gräueltaten des Kolonialkrieges und den Foltergefängnissen in Tarrafal, Peniche und Caxias: »Dieser Prozess ist der erste Schritt in eine neue Zeit.« (S. 50)

In der 2. Farce geht es um WiderstandskämpferInnen und deren Schicksal. Dann stürmt die Polizei das Gebäude, es fällt ein Schuss …

Miguel Oliveiras Text über die Todesvögel (pássaros da morte) ist eindringlich, seine Sprache ist direkt und voller Gewalt. Wie die Realität zur Zeit der Salazar-Diktatur. Dieses Buch ist nichts für Zartbesaitete. Wer sich darauf einlässt, lebt einen Nachmittag in längst vergangenen Zeiten. 

Miguel Oliveira: Pássaros da morte
Eine Tragödie in zwei Farcen
BoD – Books on Demand · 3.12.2021
Taschenbuch, 112 Seiten; 12,7 × 20,3 cm
ISBN 978-3755742203 · 14,95 €

Brigadechefin Madalena Oliveira – das Schreckgespenst der PIDE

Wie Maria mit »Streichholzschachtel« die Folter übersteht    von Catrin George Ponciano

> Marias Bruder wurde verhaftet und nach Lissabon in die Zen­trale in die Rua António Maria Cardoso, Hausnummer 39, gebracht. Dort haben die sogenannten Zeittotschläger (safanões a tempo) ihn verhört, für durchgehenden Schlafentzug gesorgt. Neun Tage lang. Danach kam er ins Gefängnis Aljube in Lissabon. Seine Schwester ­Maria kämpfte weiter. Für ihn. Für sich. Für alle Marias.

Sie tritt ein in die vom Regime verbotene Bewegung für demokratische Vereinigung Movimento de Unidade Democrá­tica. Doch pazifistisches Aufbegehren wird mit Polizeigewalt bestraft. Polizisten prügeln die Frauen nieder, wollen ihren Widerstand brechen. Maria und andere Marias schließen sich als Aktivistinnen zusammen im militanten Flügel der Portugiesischen Kommunistischen Partei PCP, sorgen für Unruhe bei Protestkundgebung gegen das faschistische Regime. Während einer Kundgebung kommt es zu Tumulten, die Geheimpolizei schlägt zu, verhaftet Maria und bringt sie nach Lissabon. Wohin, weiß Maria ganz genau: In die Rua António Maria Cardoso, Hausnummer 39, dritter Stock. Was sie dort erwartet, weiß sie auch und nimmt sich vor, außer dem Wort Streichholzschachtel sonst nichts zu sagen.

Es ist Ende April. Der Frühling hält Einzug in Lissabon. Es ist warm. Frauen tragen bunte Kleider spazieren. Maria erspäht Menschen, die auf den Bürgersteigen flanieren, während der Militärjeep die Steigung erklimmt und in den Hof des PIDE-Hauptquartiers einbiegt. Das Metalltor schließt sich. Die Agenten schubsen Maria aus dem Jeep, in das Gebäude, in einen schmalen leeren Raum. Die Fensterflügel zum Hinterhof sind weit geöffnet. Eine Lerche singt. Alle zehn Minuten kündigt eine Tram mit fröhlichem Bimmeln ihren Halt vor dem Tea­tro São Luiz an.

Der erste Faustschlag schnürt Maria die Luft ab, sie erbricht sich, aber sie schreit nicht − sie bleibt stumm. Mehrere Agenten der PIDE bombardieren sie abwechselnd mit Fangfragen über militante Genossen, über Verstecke, Waffen, Strukturen, schlagen willkürlich zu, überallhin. Schlaf wird zum Fremdwort. Man verweigert Maria Wasser, Nahrung, den Gang zur Toilette. Irgendwann, Maria hat sämtliches Zeitgefühl längst verloren, betritt eine Frau in Uniform das Verhörzimmer.

Die Brigadechefin Madalena Oliveira, Spitzname PIDE-Leninha. »Spricht sie immer noch nicht?«, höhnt sie. Die Kollegen lachen. Die Brigadechefin schlägt zu.Maria röchelt, erbricht sich, macht unter sich. Madalena Oliveira zwingt sie, sich auszuziehen, auf den Boden zu knien und Urin und Erbrochenes mit der eigenen Kleidung aufzuwischen. Die anderen Agenten schauen zu. Rauchend. Lachend. Fotografierend.

Marias Körper erträgt die Drangsal. ­Alles erträgt sie. Den Schlafentzug. Das Dauerstehen. Systematisch demoralisiert, missbraucht, misshandelt, widersteht sie allen psychologisch perfiden Taktiken. In einem fort murmelt sie caixa dos fósforos, Streichholzschachtel, Streichholzschachtel. Wie ein Gebet.

Nach elf Tagen kommt sie ins Gefängnis nach Caxias, achtzehn Monate Einzelhaft. Ein Ohr an die Wand gepresst, lernt sie das Klopfmorsen, um das Alleinsein zu überstehen. Drei Jahre nach ihrer Freilassung die zweite Verhaftung. Wieder treffen Maria und Madalena aufeinander, und auch dieses Mal sagt Maria nicht mehr als das Wort Streichholzschachtel. Die Brigadechefin steckt sie in eine Dunkelzelle in Einzelhaft.

Drei Jahre nach der Nelkenrevolution erstattet Maria Anzeige gegen Madalena Oliveira wegen Menschenrechtsverletzung. Vier weitere weibliche PIDE-Opfer treten in den Zeugenstand und berichten erstmals in aller Öffentlichkeit von den erfahrenen Misshandlungen in der Frauengefängnisabteilung in Caxias sowie von den Drangsalen im PIDE-Hauptquartier durch die ehemalige Brigadechefin. 

Madalena Oliveiras sagt aus: »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, sondern nur meine Arbeit gemacht.« Sie sagt das mit Inbrunst tiefer Überzeugung, was das charakteristische für Staatsfolterorgane nicht vorhandene Unrechtbewusstsein widerspiegelt, das den meisten vor Gericht gestellten Tätern und Handlangern aus faschistischen Systemen fehlt. 

Beinahe wäre Madalena Oliveira freigesprochen worden, denn in den 148 am 25. April 1974 sichergestellten Registerjournalen im PIDE-Hauptquartier mit 29.500 penibel notierten Verhörprotokollen zwischen 1933 und 1974, steht nirgends auch nur eine einzige Bemerkung über angewandte Staatsfolter oder gar Todesfälle. Einzig beruhend auf den Zeugenaussagen der fünf Opfer wird Madalena Oliveira zu vier Jahren und vier Monaten Haft verurteilt.

Die Geschichte von Maria und Madalena ist ein Paradigma dafür, wie essentiell Erinnerungskultur ist, wie komplex der Aufarbeitungsbedarf ist, damit keine einzige Maria, die jahrelang Folter und Haft für ihren Glauben an eine gerechtere Zukunft ertragen hat, jemals in Vergessenheit gerät.

Zeittafel zur Geheimpolizei Portugals:
• 1932 bis 1945 PVDE − Polícia de -Vigilância e de Defesa do Estado
• 1945 bis 1969  PIDE − Polícia -Internacional de Defesa do Estado
• 1969 bis 1974 DGS − Direcção Geral da Segurança

INFO:
Im Museum Museu do Aljube de Resistência e Liberdade in Lissabon hat im April 2021 die Ausstellung »Frauen im Widerstand − Mulheres e Resistência« eröffnet. 

Die Exponate gedenken weiblichen Folteropfern der portugiesischen Geheimpolizei zwischen 1926 und 1974 und dokumentieren den Gerichtsprozess gegen die Drei Marias, Maria Teresa Horta, Maria Velho da Costa und Maria Isabel Barreno. 

Eine Hommage an 50 Jahre »Neue Portugiesische Briefe« − Novas Cartas Portuguesas (Gustav Kiepenhauer Verlag) und an alle Marias, die Opfer des Salazar-Regimes wurden.

INTERNET:
https://www.museudoaljube.pt/en/