Bericht von einer Reise nach Corvo (Azoren) • von Ana Carla Gomes Fedtke und Eberhard Fedtke
> Carlos, der Kapitän unseres fragilen, aber charmanten Bootes, scheint zutiefst berauscht zu sein von einer gewissen Inspiration an Geschwindigkeit und Schnelligkeit. Verantwortlich für etwa dreißig Passagiere, brilliert und spielt er mit seiner beruflichen, privilegiert anziehenden und mit ultra-expressiver Hingabe versehenen Beschäftigung, eines dieser eleganten Schlauchboote zu manövrieren und zu dirigieren, welche gleichsam in wahrhaftiger und wilder Bravour über das Wasser fliegen. Heute sind wir in seiner Hand. Seine gesamte Figur steht im Einklang mit seiner Bestimmung, seiner Beschäftigung und permanent überbordender Freude.
Indessen, Schritt für Schritt in chronologischer Reihenfolge: Wir befinden uns in den Ferien auf den Azoren, auf der Insel Flores, die Azoren sind nichts anderes als unser auserwählter Garten, und dies seit Jahren. Teil des unbedingt wichtigen und unvergleichlichen Programms ist ein Tagesausflug auf die Insel Corvo, kärgliche 23 Kilometer vom Blickpunkt unseres blumigen Domizils entfernt.
Wir haben zwei Möglichkeiten, das Meer zu überqueren: entweder in einem Ferry-Boot in ruhiger und beschaulicher Seefahrt, in entspannten Gesprächen mit anderen Passagieren und in nautisch intimer Art und Weise einen Kaffee oder einen Champagner an der Schiffsbar oder mit profundem Erlebnis dieses kleine Wassergefährt zu nehmen. An die erste Möglichkeit ist gar nicht zu denken, nicht heute.
Die Möglichkeit, die sich uns also bietet, von uns seit langem beschlossen, viel schneller und entschieden riskanter, extrem verwegener und gleichzeitig waghalsiger, verbunden mit einem exzentrischen und ungestümen Programm, von Herrn Carlos dirigiert, ist die Wahl seines Schlauchbootes. Unsere unabänderliche und unwiderrufliche Entscheidung hat mit dem explosiven Erlebnis dieses Abenteuers zu tun, mit dem Boot auf den Kämmen der Wellen zu reiten. Wir fliegen gern, zu Wasser und zu Lande. Im nächsten Leben werden wir Piloten sein, diese unsere Entscheidung ist gefällt.
Im Hafen von Santa Cruz begrüßt uns Carlos graziös. Breitschultrig und mit gespreizten Beinen balanciert er, das eine auf der Kaimauer, das andere auf der Balustrade des vehement schwankenden Bootes, die einheimischen und ausländischen Passagiere ins Boot, einige unter ihnen schon mit sichtbarer Transpiration beim Einsteigeversuch mit wenig Gleichgewicht im Angesicht. Wir sind ob der Tatsache erstaunt, dass das kleine Gefährt voll besetzt ist. Uns gelingt es, zwei letzte Plätze direkt vor Carlos zu ergattern, welcher beide Hände am Steuer hält.
Sobald alle an ihren bestimmten Plätzen und die Sicherheitsgurte angeschnallt sind, lässt Carlos den Bootsmotor aufheulen und mit einem spektakulären Start und erstem hohem Bootsbug fährt er aus dem Hafen, mit einem gewitzten Lächeln sichtbar ab da auf seinem Gesicht. Unser seismographisches freiluftiges Abenteuer beginnt gut und furios. Hohe Gischt rechts wie links des Bootes, springt sie manchmal bebend über die Passagiere. Die Zöpfe der Mädchen wehen waagerecht im starkem Wind, das Boot schlägt gegen die Wellen, tanzt mit Ungestüm, die Spitze mal nach oben, mal nach unten, als handele es sich um eine horizontale Berg- und Talbahn. Wir sind verblüfft und begeistert von diesem originellen Spektakel, ohne Rückgriff auf irgend etwas derart Erlebtes, gesund für unsere Seele.
Carlos muss jeden Quadratzentimeter vor der Küste kennen, die riskanten Manöver auf unglaublich hoher Geschwindigkeit zwischen den Felsen am Strand einzuschätzen. Abrupt macht er Andeutungen von Pirouetten, einige Passagiere in Angst versetzend, welche ihre Hände erschrocken an die Metallhalterungen klammern, die sich vor jedem Sitz befinden. Fehlt uns noch, bitte Herr Carlos, es zu machen, eine totale Pirouette. Die schüchternen Aufschreie einiger Passagiere hallen von den Schutthalden wider, als wir Grotten und Höhlen besuchen, dies bezahlter Teil des fulminanten Programms. Lediglich eine exorbitante Musik, welche von Wasserfällen direkt über uns kommt, macht einen signifikant höheren Lärm. Das einzigartige Spektakel könnte nicht größer sein, diese wunderbare Sinfonie von Wasser, Wind, Felsgestein und restlichen Naturwundern, nichts kann unseren passionierten Geschmack an diesem vulkanischen Ambiente mit dem starken und unverwechselbaren Geschmack aufgewühlten Meeres übertreffen. Hin und wieder droht eine große Welle, Gesichter und Rettungswesten nass zu machen. Einige Passagiere zittern. Aber dieses Risiko ist, ersehen wir an dem vergnügten Gesicht von Carlos, Teil eines ausgewählten Programms unseres exzentrischen Kapitäns mit äußerst extravaganten Einfällen, sobald er mit dem wildem Meer konfrontiert wird. Wir sind sehr begeistert, applaudieren laut mit unseren erhobenen Händen, aber nicht alle Passagiere fühlen sich wohl, wie an ihren eingekrümmten Figuren zu sehen.
Nach unseren kurzen Einfall in die Küste »von der Wasserseite her« mit ihren Kuriositäten an Grotten, Wasserfällen und Sehenswürdigkeiten überqueren wir das Meer in Richtung Corvo, 20 Minuten schnellen Sprints mit romantischem Kampf gegen die Wellen, heute moderat, wie Carlos mir erklärt. Es gibt wenige Tage während eines ganzen Jahres, dass ein Ausflug Flores nach Corvo und zurück völlig ausgeschlossen ist, das heißt, sofern die atmosphärischen Bedingungen es nicht zulassen, das Risiko für dieses fragile Boot zu groß ist.
In Corvo angekommen, betreten wir in eine indigene und ursprüngliche Welt. Ein unvermittelter Kontrast, sofern wir uns an die 20 Minuten vorher erinnern. Alles erscheint uns in einem bezaubernden Rhythmus von Gemächlichkeit und Ermattung. Die Straßen schlummern, die Leute scheinen allesamt von jeglichen modernen Aktivitäten befreit. Hier, auf dem Festland ohne Bewegung, ermüdet die Hitze. Nur ein Gruppe, die Taxifahrer, zeigen eine gewisse Neigung zu Aktivität, Geld zu verdienen. Zumindest reagieren sie wenige Male mit diesem Ritual an Lebendigkeit, wenn täglich einmal das Ferry-Boot und zweimal der flinke Carlos mit seinem sprinter kommen, die Stille und Zurückhaltung der gelassen Insel zu unterbrechen, und dies in brutaler Form polyglotter Individuen. Mit Fotoapparaten bewaffnet, mit bunten Touristikhüten und Smartphonen im Anschlag, alles im Umkreis impertinent zu fotografieren, für, wie sie sagen, ihr eigenes dauerndes Archiv oder um ihren Nachkommen die Schönheiten zu zeigen, welche ein Teil des westlichsten Europas ist. Die Taxifahrer, kapriziös ohne Pause superaktiv, laden engagiert die Touristen ein, sie auf den Gipfel der Insel zu begleiten, die große Lagoa mit ihren 365 Grad magischen Horizonten und übersättigt mit unendlichen Fantasien zu besuchen. Wir mieten eines dieser Vehikel, der gross gewachsene Taxifahrer war ein wortreicher Erzähler über sein tektonisches Domizil.
Die Lagoa, von enormer Ausdehnung und noch immer teilweise mit Wasser gefüllt, erläutert den Besuchern das Porträt und die Geschichte dieser kleinen glamorösen Insel, aktuell mit 383 Einwohnern gemäß amtlicher Angabe. Ein kleiner Flughafen neben einem blühenden Friedhof, eine innen und außen pittoreske Kirche mitten in der Stadt, nahe einem Arzt für die Gesunderhaltung der kleinen Bevölkerung, wobei dieser Doktor, wie wir erzählen hören, vom Kontinent stammt. Man betrachtet hier oben als ein außergewöhnliches Exemplar die typische und immer wieder beeindruckende Episode eines kumulativen geologischen Produkts: Ein roter Berg vom magischer Lava hat sich aus dem Meer erhoben und schuf das lichtvolle Panorama einer weiten Schüssel, von der nach allen Seiten Abhänge und Böschungen hinabfielen, heute mit Wiesen und unzähligen Kühen und Wiesenblumen bedeckt, dieselbe nützlich für die Fauna und Flora in reiner Monokultur. Uns grüßen auch kleine Weingärten um die hübsche Stadt herum, mit weißen Häuser ausgestattet: Die noble Einfachheit des gesamten natürlichen Ambientes tut gut, besänftigt und heilt die Seele. Es lässt uns darüber nachdenken und aufzeigen, dass in dieser so überzogenen heutigen Welt wenig wirklich notwendig ist, in gesunder maritimer Ruhe und spiritueller Beschau zu leben. Auch mit dem praktischen Vorbehalt eines modernen Lebens, die elegante Hilfe eines kleinen Motorflugzeuges zu nutzen: Dieses Gefährt ist gleichsam wie eine Nabelschnur, um gelegentlich in die laute Welt zu entfliehen, indes gut genesen in dieses Paradies mit der gesunden Stimmung exotischer Lava zurückzukehren.
Es lohnt, zurück zu kommen und mit Nostalgie Corvo total zu erkunden, nicht lediglich für einen schnellen Sprung einiger Stunden von Flores für ein minutiöses Intermezzo mit Carlos, welcher sich seinem lukrativen Geschäft zweimal pro Tag widmet, sondern wenigstens für ein paar Tage oder deren mehr, um besser und tiefer in die schönen Gemeinnisse dieses Mikrokosmos von anmutiger Fauna und Flora, diese kontemplativ und melancholisch, einzutauchen. Mithin bis bald, nach einem Zwischenaufenthalt auf dem Kontinent.