Portugals Algarve ohne Sommergäste? Unvorstellbar • von Catrin George Ponciano
> Am 30. Juni stand ich in Vila Real de Santo António am Flussufer und schaute auf den seicht dahin- strömenden Rio Guadiana, der von jeher die beiden Ufer und ihre Menschen im Süden der Iberischen Halbinsel voneinander trennt: die außerrömischen Provinzen Hispanien von Lusitanien, die islamisch besetzten Gebiete Al-Andaluz vom Algarve, später das Königreich Portugal und der Algarven vom Königreich Kastilien und heute Spanien von Portugal.
Doch etwas stimmt nicht. Der Fluss, der hier zwischen Vila Real de Santo António in den Atlantik schwemmt, breit, gemächlich und tintenblau, ist leer: Kein einziges Boot hinterlässt einen Gischtschweif und schwappende Wellen, kein Dieselmotor tuckert im Zwei-Takt, das einzig Hörbare ist das Knarzen eines Segelschiffsbauches. Ein fliegender, nein, ein schwimmender Holländer, der vor den ehemaligen Thunfischhallen vertäut am Kai liegt. Das blau-rot lackierte Fährboot, das sonst ständig zwischen Ayamonte am Ufer gegenüber in Spanien und Vila Real de Santo António in Portugal hin und her schippert, fehlt. Die Erkenntnis trifft mich blitzartig in dem Moment, als ich eine ältere Frau sehe, die ihr Auto neben den Fischhallen parkt, aussteigt und all die fiependen, streunenden Katzen füttert. Sie trägt einen Mundschutz. Wir leben im Zeitalter der Corona-Pandemie und heute ist der 30. Juni. Die Grenze ist geschlossen und somit auf dem Guadiana nichts los.
Morgen wird es anders sein, denn morgen ist ein neuer Tag. Am 1. Juli öffnen Portugal und Spanien ihre Grenze wieder, die seit dem 17. März für die Dauer des internationalen Lockdowns geschlossen ist und danach, präventiv, weitere zwei Monate lang. Seit Anfang Mai ist der Hausarrest in Portugal vorbei. Seit Mitte Mai sind Cafés, Restaurants und Geschäfte wieder geöffnet. Seither wartet Algarve. Warten Angestellte. Warten Arbeitssuchende. Warten Lieferanten. Alle warten. Auf Touristen.
Die Stadtväter, die Geschäftsinhaber und vor allem die derzeit wegen Covid Ausgestellten und noch nicht wieder Angestellten hoffen, der gesamte Algarve hofft, dass während des Sommers, zumindest ein Teil der nach wie vor geltenden 50% Belegung ausgelastet wird. Dass wenigstens die Hälfte der erlaubten Betten, der erlaubten Sitzplätze im Restaurant besetzt werden. Dass Urlauber kommen mögen, und konsumieren. Einkaufen. Essen. Trinken. Übernachten. Damit Löhne bezahlt werden können. Mieten. Energie. Versicherungen. Steuern. Damit, ach nein, lieber nicht an den nächsten Winter denken.
Mitte Juni dann die Hiobsbotschaft: England sagt, Portugal wäre ein Risikoland. Andere stimmten in den Refrain ein. Die Angst wächst. Keiner will zu uns kommen. Portugal dankt einer Handvoll Partybestien, die in Lagos und in Lissabon das Tanzbein geschwungen haben, bis einige Tage später die Fallzahlen rasant in die Höhe schossen. Die Nation hielt den Atem an. Steht etwa ein zweiter Lockdown bevor? Sollte der Flughafen Faro, eben erst wieder zum Leben erweckt, etwa erneut in den Tiefschlaf gleiten?
Nein. Seit Anfang Juli erfährt der Algarve Belebung. Erst allmählich, dann rasant ansteigend. Die Engländer reisen in den Algarve via Amsterdam/Spanien und weiter mit dem Mietwagen. Die Spanier reisen ein, weil sie mehr Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus im eigenen Land haben, und verbringen Wochenenden oder Ferien lieber hier. Mitte Juli − und seither unaufhörlich − höre ich, egal wo, im Supermarkt, an der Kasse, im Restaurant, in der Eisdiele, avec moi, und avec toi, und bonjour, ça va. Franzosen reisen an mit dem Flugzeug oder mit eigenem Fahrzeug, quer durch Spanien. Peux á peux füllt sich der Algarve. Vor den Supermärkten bilden sich täglich längere Warteschlangen als in der gesamten Arrest-Zeit. Stop-and-go-Verkehr auf den Straßen innerorts und auf der Nationalstraße N 125 seit dem ersten August, seit die übliche alljährlich wiederkehrende Reisewelle aus Portugals Hauptstadt und dem Norden anrollt und portugiesische Touristen, wie alle Jahre wieder, sich in ihrer Provinz, häuslich einrichten − in Ferienwohnungen, bei Ávo und Avô oder in Hotels. Mitbringen tun sie alles, was man im Algarve braucht oder nicht, vom Klopapier bis zur Babywindel sind ihre Autos vollgeräumt bis unter das Dach. Trotzdem gehen sie täglich alle zur gleichen Zeit einkaufen. Die Warteschlange vor den Discountern, egal wie er heißen mag, ist nicht die einzige. In den Shopping-Oasen herrscht Betrieb wie an Heiligabend. An der Einfahrt zum Parkplatz am Strand staut sich die Wagenkolonne. Am Strand zieht die Karawane in Gleichschritt und Gänsemarsch weiter ihre Runden, steht in den Strandlokalen an für einen freien Tisch oder bloß für ein Eis. Wie eh und je bevölkern Urlauber Algarves Strände, kommen vollbepackt mit Strand-Accessoires, Sonnenschirm und Liegestuhl, lassen sich Handtuchnaht an Handtuchnaht nebeneinander in den Sand sinken und bestöhnen im polyphonen Gleichklang das verflixte VirusJahr.
Am Abend zappelt die Karawane ungeduldig und hungrig − vor den Restaurants wartend − auf der Straße, bis ein Tisch frei wird. Wenn ein Gastronom verkündet, dass alle Tische belegt sind und danach Feierabend sei, reagieren die Wartenden entrüstet und polemisch. Trotz aller geltenden COVID-Empfehlungen halten sich derzeit (gefühlt) mehr Gäste im Algarve auf, als Sitzplätze in den Restaurants zur Verfügung stehen. Service-MitarbeiterInnen und Küche arbeiten am Limit. Halb so viele Plätze stehen den Gästen bloß zur Verfügung, aber diese wechseln im Stundentakt. Um wirtschaftlich arbeiten zu können, haben die Gastronomen ihren Mitarbeiterstamm auf die Hälfte reduziert, aber alle Tische bleiben bis nach Küchenschluss ununterbrochen neu besetzt. Kinder quengeln, Frauen keifen, Männer fluchen. KellnerInnen eilen überfordert hin und her, stundenlang und pausenlos mit Mundschutz, bei Temperaturen zwischen 30 und 35 Grad Celsius, der Schweiß rennt ihnen über das Gesicht, das Hemd klebt ihnen am Rücken. Ihre zwei Hände und zwei Beine reichen nicht, um den ungeduldigen Ansturm zu bewältigen − aber irgendwie schaffen sie es trotzdem. August-Business as usual.
Der Mundschutz, auch für Gäste beim Betreten eines Lokals vorgeschrieben, baumelt bei den meisten − leider − bloß am Handgelenk. Der Abstand in der Warteschlange beträgt eher zwei Handbreit als zwei Meter, wobei zusätzlich alles versucht wird, um sich vorzudrängeln und den nächsten freien Tisch zu ergattern.
Am Strand sieht sie Situation ähnlich aus. Zu viele StrandbesucherInnen und zu wenig Platz. Die mit Liegen konzessionierten Flächen und die für freies Liegen mit Sonnenschirm sind deutlich erkennbar getrennt. Fahnenstangen markieren die Grenzen, Schiffstaue liegen kennzeichnend im Sand. StrandgängerInnen mit eigenem Sonnenschirm sind im konzessionierten Teil unwillkommen. Kleinkriege zwischen dem Strandliegen-Vermieter und dem Urlauber brechen aus − selbst im Covid-Jahr. Denn auch hier gilt die 50%-Belegung, die Strandliegen stehen weiter auseinander, aber die Strandbetten-Vermieter bezahlen trotzdem ihre Konzession, die RettungsschwimmerInnen und sorgen für sauberes Ambiente.
Todo boe da fixe. Die Strandbesucher teilen sich den Strand unter Algarves perfekt blauem Himmel und lassen sich rundherum sonnenbräunen oder röten. Der Algarve ist voll. Zumindest entlang der Küste. Der Tourismus boomt, alles ist wie immer: Alles wird gut! Und − Gott sei Dank − Bolas de Berlim gibt’s auch. Frisch, fettig, fluffig − und frech vom Verkäufer aus der Kühltasche angepriesen. Na dann: Schöne Ferien!