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Lisboa, cidade triste e alegre

Cover des Buches «Lisboa – cidade triste e alegre«

Victor Palla zum hundertsten Geburtstag    von Jörg Hahn

> Wie kann man «Lisboa, cidade triste e alegre», also Lissabon als traurig-fröhliche Stadt, am besten verstehen? Es ist leicht mit Hilfe von Victor Palla.

Die ersten Hinweise auf Palla, den vor einhundert Jahren geborenen künstlerischen Tausendsassa, erhalte ich ausgerechnet in Frankfurt am Main im Fotografie Forum. In einer Retrospektive des amerikanischen Fotografen Peter Fink ist ein Raum Aufnahmen aus dem Portugal der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts gewidmet, eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Foto aus Lissabon, Nazaré, dem Alentejo. Ein Kontaktbogen zeigt den Empfang von Soldaten aus den ­Kolonien im Lissaboner Hafen. Kinder, Frauen und Männer liegen sich in den Armen, die Gefühle aller sind sichtbar − und fast körperlich spürbar. 

Von den vielfältigen, spontanen Aufnahmen Finks von Straßen, Landstrichen, Situationen und Menschen, mit denen er Einblicke in neue Kulturen eröffnete, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Victor Palla, der zu derselben Zeit in einem sehr vergleichbaren modernen Schnappschuss-Stil − aus der Hand heraus ohne jede Vorbereitung − fotografiert hat. Im Fink-Ausstellungskatalog wird neben anderen inspirierenden Kollegen und Kolleginnen gerade auch Victor Palla genannt, und dabei vor allem dessen zusammen mit dem Designer Costa Martins im Jahr 1959 entstandenes Buch Lisboa, cidade triste e alegre. Fink hat seinen Plan, einen eigenen Fotoband über Portugal und die iberische Halbinsel herauszugeben, nie realisiert. Über Portugal schrieb der Amerikaner, der sein Geld als Artdirector für bekannte Modemarken verdiente, in einem Artikel für die Dallas Morning News im Mai 1956: »Glücklicherweise ist hier wenig, um Touristen anzuziehen, und deshalb kann man einen wahren Unterschied kennenlernen zu dem, was wir in Amerika haben.« Das klingt zunächst etwas herablassend, doch Fink bewunderte Portugal für seine Geschichte, ­seine Authentizität, seine Menschen und deren Hand-Arbeit.

Palla war wie Fink auch ein Chronist in Sachen Schönheit: Das Buch Lisboa, cidade triste e alegre gilt es wiederzuentdecken. Die schwarz-weißen Fotografien zeigen respektvolle Empathie für die ­aufgenommenen Menschen (die den ­Fotografen meist nicht einmal bemerkt haben werden) sowie eine geradezu poetische Bildsprache. Denkt man sich aus dem heutigen Straßenbild die Menschen in der Kleidung von 2022 weg, sieht man in dem Band noch immer auch große Teile des aktuellen Lissabon. Das gehört zur Faszination, die von Palla und seinen Bildern ausgeht.

Die Last harter Arbeit, die nächtlichen Lichter der Großstadt, das Leben der Frauen, reich oder arm, dazwischen immer wieder Aufnahmen von Kindern − vertieft ins Spiel, neugierig aus dem Fenster schauend, begeistert auf dem Rummelplatz. Die junge Generation scheint für den Fotografen Ausdruck von Hoffnung und Lebensfreude in der Diktatur zu sein. Den Alten, mit zerfurchten oder besorgten Gesichtern, begegnet er mit Würde. Und immer lohnt es sich für den Betrachter, die Details in den Blick zu nehmen: einen Schirm im Arm einer jungen Dame, eine Hausfassade mit Wäscheleinen, aus einem Versteck lugende Katzenaugen, ein noch nicht abgeräumter Tisch im Café, ein auf dem Kopf ­getragener Lastenkorb. Themen sind Einsamkeit und Gemeinschaft, Nachdenklichkeit, Zuversicht und Verzweiflung. Zitate von zwanzig Autoren, u.a. Mário de Sá-Carneiro, Fernando Pessoa und Alvaro de Campos, machen diesen monochromen Band bunt. Nehmen wir diese Zeilen von Sidónio Muralha: «Meninos de olhos adultos/Fundos como dois segredos» (»Jungen mit Erwachsenenaugen/Tief wie zwei Geheimnisse«). 

Studien der Architektur und der Schönen Künste in Porto und in Lissabon hatten Palla früh seinen großen Aktionsraum eröffnet. Zwischen 1946 und 1973 hatte er ein Architekturbüro. Aus der Partnerschaft mit Joaquim Bento d’ Almeida resultiert eine beeindruckende Zahl von Arbeiten, herauszuheben sind die ersten Snackbars in Lissabon, darunter das Galeto, dazu aber gleich mehr. Einfamilienhäuser, Büro- und Wohngebäude, Industrieanlagen oder öffentliche Gebäude wie die Escola do Vale-Escuro in Lissabon gehörten ebenfalls zum Portfolio des Architektenduos; sie wurden 2017 in einer umfangreichen Ausstellung im Centro Cultural de Belém gewürdigt.

Der Beruf als Architekt stand nie alleine, in allen anderen Künsten hat Palla stets experimentiert. Er hatte einen ein Jahr jüngeren Bruder, den Schriftsteller José Palla e Carmo, literarisch auch als José Sesinando bekannt. Mit ihm zusammen übersetzte er etwa Werke von H. G. Wells und Somerset Maugham. Und tatsächlich, so ist überliefert, verbringt er in den fünfziger Jahren mehr Zeit mit der Fotografie. Mit Costa Martins machte er sich nach Studium und einer längeren Berufstätigkeit daran, die Stadt (besonders Bairro Alto und Alfama) methodisch zu erkunden, Orte und Menschen einzufangen. Zwischen 1956 und 1958 hörten die beiden praktisch auf zu arbeiten und wanderten Tag und Nacht durch die Stadt, fotografierten. Sie kamen nur nach Hause, um die Negative zu entwickeln und zu vergrößern. So wurden sie Pioniere der zeitgenössischen Fotografie. Aus einer Auswahl von 200 Fotografien unter den 6.000 Bildern, die bei den Wanderungen durch Lissabon entstanden, resultierte 1958 eine Ausstellung. Darauf folgte im Jahr danach schließlich das Buch Lisboa, cidade triste e alegre.

Für die Autoren selbst war dieses Werk «das Porträt des menschlichen und lebendigen Lissabons durch seine Bewohner − bei Tag, bei Nacht, in ihren Vierteln, in Baixa, am Tejo − eine manchmal glückliche, manchmal traurige Offenbarung, aber immer und gefühlt vom Leben einer Stadt. Vielleicht wäre es deshalb angebrachter, es ein ›grafisches Gedicht‹ zu nennen.« Ein Gedicht im Übrigen, für das man (zunächst) noch nicht Portugiesisch können muss.

Nach der wirtschaftlich erfolglosen Erstausgabe geriet das aufwändig produzierte Buch praktisch in Vergessenheit, erst im 21. Jahrhundert erfuhr es die verdiente weltweite Anerkennung. Das Lissabon-Buch mit Costa Martins war nur ein Projekt unter vielen; Porträts und Versuche mit Figuren, Form, Licht ergeben eine bemerkenswerte Sammlung unwiederholbarer Aufnahmen. Die Calouste Gulbenkian Stiftung hat das mitunter rastlos wirkende Schaffen Pallas schon 1992, zu seinem 70. Geburtstag, präsentiert. Von der Grafik bis zur Malerei, von der Architektur bis zur Fotografie − das sprunghafte wie ehrliche Interesse trieb ihn zu allen möglichen Herausforderungen. Er wurde auch, wenn auch nur für kurze Zeit, Galerist oder Keramiker. Seine Malerei und seine Fotoarbeiten sind in einigen der wichtigsten Sammlungen Portugals vertreten.

Die Kunsthistorikerin Lígia Afonso hat geschrieben: »Victor Palla, Protagonist ­einer der wichtigsten und vielseitigsten Reisen des portugiesischen 20. Jahrhunderts, verschwand (…), ohne dass die ­Dimension seines globalen Werks wirklich verstanden wurde.« Er habe die verschiedenen Medien sukzessive neu erfunden und neu interpretiert, mit einem experimentellen Verlangen. 

Wie kann man dieses Verlangen nachvollziehen? Ein guter Grund für einen Besuch in der Snackbar Galeto, als ob man wirklich einen bräuchte, ist es, eine Arbeit von Palla zu sehen, zu erleben ­(Avenida da República 14, nahe Campo Pequeno). Die kurvige, umlaufende Theke, an der die Gäste nebeneinander und gegenüber sitzen, dürfte in Lissabon einzigartig sein. Von frühen Vögeln am Morgen bis zu den Nachtschwärmern − für alle ist seit bald sechzig Jahren geöffnet. Das Geschäftsmodell beruhte zunächst auf dem Verkauf gegrillter Hähnchen − auf Italienisch als Galleto bekannt. Aus der italienischen Community in Brasilien kam die dort populäre und erfolgreiche Idee der Snackbar als Ort gleichermaßen für Konsum und Kommunikation, für Genuss und Gesellschaft nach Europa zurück.

Der rasche Erfolg des Galeto spiegelte die damalige Entwicklung der Stadt. Sie wurde moderner, und man experimentierte mit neuen Formen der Gestaltung von Räumen, Gebäuden und des öffentlichen Raums. Joaquim Bento d’ Almeida und Victor Palla waren also die Architekten, die diesen und andere ähnliche Räume entwarfen und damit das Konzept der Snackbar in Lissabon einführten. Das ungewöhnliche Design der Theken, das einer Art Labyrinth gleicht, wirkt so: Als Gast sitzt man womöglich einem anderem unbekannten Gast auf der anderen Seite gegenüber. Dies kreiert eine hybride Atmosphäre des Alleinseins mit vielen. Oder eine andere Vorstellung dazu: Man fühlt sich entweder als Darsteller auf einer Bühne, dem alle anderen zusehen können; oder man empfindet sich als Zuschauer des Spiels aller anderen. Jedenfalls entsteht eine Atmosphäre, die sich in klassischen Lokalen mit Tischen in Reih’ und Glied so nie und nimmer einstellt. 

Im Galeto kann man immer noch − am Tag wie in der Nacht − Stunden damit verbringen, seinen (Saudade-) Gedanken nachzuhängen, verbunden womöglich mit einigen nicht ganz so produktiven Getränken. Ein unverändert moderner Ort, die Farben und die Formen wirken wie aus einem Einkaufszentrum dieser Tage. Ein Ort, der effizient und zweckmäßig ist, aber Zeit gibt, ohne Druck und ohne Ziel zu sinnieren. Lisboa, cidade triste e alegre. In diesem Lokal ist sie zu finden − wie die Erinnerung an Victor Palla und dessen Gesamtwerk aus Gestaltung und Gefühl.

Foto von Victor Palla

Victor Palla · Foto: © Maria José Palla

VICTOR PALLA (13.3.1922–28.4.2006): in Lissabon geborener Architekt, Fotograf, Grafikdesigner, Maler, Lektor, Übersetzer, Autor.

PETER FINK (1907–1984): amerikanischer Artdirector und Modefotograf, geboren als Samuel Nelson Peter Finkelstein als Sohn russischer Auswanderer

BUCH: Lisboa, cidade triste e alegre/Die traurig-fröhliche Stadt, 1959 erstmals erschienen, 2009 Neuauflage, Reprint bei A Vida Portuguesa mit Shops in Lissabon und Online-Shop

LINKS: 

  • https://www.pierrevonkleist.com/products/lisboa-cidade-triste-e-alegre
  • https://www.avidaportuguesa.com/pt/loja/livraria

BEKANNTE SNACKBARS:

  • Galeto, Pique-Nique, Noite e Dia, Tique-Taque (nicht alle in der ursprünglichen Form erhalten).

LINK:

  • http://lojascomhistoria.pt/lojas/galeto