Mit Tavira beginnt Anfang der 1980er Jahre meine Liebe zu Portugal
• von Andreas Lahn
> In Abwandlung eines Spruchs von Fernando Pessoa könnte man sagen: «Quem não viu Tavira, não viu coisa boa.» − »Wer Tavira nicht gesehen hat, hat (noch) nichts Schönes gesehen!«Pessoa bezieht sich natürlich auf sein geliebtes Lissabon, aber für mich trifft dieser Spruch allemal auch auf Tavira zu. Und das liegt nicht nur daran, dass dies die erste Stadt in Portugal ist, die ich kennenlerne. Heute hat sie circa 30.000 EinwohnerInnen, liegt im östlichen Teil des Algarve und wird − wie viele andere Orte auch − im Sommer von TouristInnen aus allen möglichen Ländern überrannt. Doch Tavira hat sich seinen eigenen Charakter bewahrt und auf den Bau riesiger Bettenburgen verzichtet. So ist der beeindruckende Charme an allen Ecken und Ecken noch spürbar, vorausgesetzt, Sie sind bereit, mit geöffnetem Herzen durch den Ort zu schlendern.
Als ich Anfang der 1980er Jahre zum ersten Mal an den Algarve fahre, lande ich aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen auf dem Camping-Platz der Ilha de Tavira. Knallige Hitze, gemütliche Cafés, Bars und Restaurants gepaart mit der Leichtigkeit des Jungseins bringen mich schnell zu der Frage, was die Welt kostet und was eigentlich wichtig ist im Leben. Wir hatten damals nicht viel Geld (genau wie heute), und wir brauchten auch nicht viel (fast so wie heute).
Die Tage auf der Ilha sind für mich unvergesslich! Das Leben auf dem Camping-Platz ist für junge Leute ideal: Günstige Preise, die Möglichkeit zur Selbstversorgung, viel Natur, direkt am Strand, vielen andere jungen Leute etc. Da wir den Strand vor dem Zelt haben, verbringen wir viele Stunden am Meer, baden, liegen in der Sonne, lesen, diskutieren und genießen es, in den Tag hineinzuleben. Hier entstehen Kontakte zu Menschen aus aller Welt, die man am Abend bei kleineren Partys wiedersieht. Bisweilen treffen wir uns am Strand, schauen auf den am Algarve grandiosen Sternenhimmel und verbessern in endlosen Diskussionen die Welt.
Natürlich haben wir auch Zeit, in den Cafés und Restaurants auf der Ilha verbracht. Morgens ist − bisweilen − die Sunshine Bar angesagt, mit schönem Blick über den kilometerlangen Sandstrand und leckerem Frühstück. Am frühen Abend ist dann − ab und zu − der Pavilhão da Ilha erste Wahl. In diesem Familienbetrieb arbeiten Jung und Alt miteinander. Ein Kellner stammt aus England und hat sich in eine portugiesische Frau aus der Familie verliebt. Der eigenwillige, schon etwas betagte Besitzer lässt seine wechselnden Launen an allen Anwesenden aus. Dazu kommt der Alkohol und macht etliche unangenehme Situationen noch unangenehmer. Hier gibt es auch heute noch einfache portugiesische Gerichte. Ich habe bisweilen nostalgische Anwandlungen. Wie vor 35 Jahren bestelle ich auch heute Sardinen mit Salat und fühle mich durch das Schwelgen in Erinnerungen einige Jahrzehnte jünger. Verstärkt wird dieses Gefühl noch durch den jetzigen Besitzer, der seit circa 30 Jahren in dem Lokal arbeitet, eben seit Anfang der 1980er Jahre. Ich erkenne ihn wieder und spreche ihn auf die alten Zeiten an. Er erinnert sich auch an mich, obwohl ich zu jener Zeit mit einer richtig langen Mähne herumgelaufen bin. Das sind schöne Geschichten, die das Leben schreibt. Immer wenn ich im Sommer am Algarve bin, plane ich einen Abstecher zur Ilha de Tavira ein, auch wenn mich das Strandleben beileibe nicht mehr so reizt wie früher.
Wer vom Camping-Platz ins Zentrum Taviras will, muss zunächst mit einer kleinen Fähre von der Ilha zum Fähranleger »Quatro Águas« fahren. Der Name beschreibt die Lage des Anlegers, weil sich hier der Wasserweg der Lagune mit dem Rio Gilão kreuzt. Es ist nur ein Katzensprung von der einen Seite zur anderen. Und doch ist jede Überfahrt etwas Besonderes. Schließlich kommt man vielen Menschen aus allen möglichen Ländern nah. Ich frage mich gerade, was wohl die portugiesischen Schiffsführer und Kartenverkäufer gedacht haben, als all die alternativ gekleideten jungen Leute ihr Schiff betreten, um auf der Ilha de Tavira Partys zu feiern. Diese Frage werde ich mir bei meinem nächsten Besuch beantworten lassen…
Von Quatro Águas gibt es eine (staubende) Straße in das kleine Städtchen. Auch wenn ein Bus fährt, bin ich diesen Weg (fast) immer zu Fuß gegangen. Er führt an riesigen mit Salzwasser gefüllten Becken vorbei. Die Salzberge werden von SalzgärtnerInnen bearbeitet und glitzern in der glühenden Sonne. Ich kaufe mittlerweile gerne portugiesisches Salz, und auch das wundervolle Flor de Sal, das per Hand im Naturschutz gebiet Ria Formosa geerntet wird. Die Salzgewinnung ist schon seit den Römern bekannt. So sollen die römischen Legionäre ihren Sold (Salär) teilweise in Salz erhalten haben.
Wir bummeln durch den Ort, erfreuen uns an den leuchtenden Farben und genießen die Hitze. Der vor allem im Abendlicht romantisch wirkende Fluss Rio Gilão teilt Tavira in zwei Teile, die durch Brücken verbunden sind. In dem kleinen Park am Fluss spenden Bäume Schatten, dort trinke ich auch ganz gern in einem der zahlreichen Cafés einen Galão. Im Zentrum kaufe ich eine Zeitung und ein paar Lebensmittel, und dann sind wir auch schon wieder auf dem Weg nach »Quatro Águas«, von wo uns die häufig voll besetzte Fähre zur Insel zurückbringt.
Tavira ist also der erste Ort, den ich in Portugal kennenlerne und bis heute sehr schätze. Der Charme von damals ist bis heute geblieben, auch wenn sich einiges verändert hat. Auf der anderen Uferseite sind viele Straßen und Häuser neu gebaut worden. Das Schicke lockt natürlich zahlungskräftigere TouristInnen an, mit dem vermutlich immer gleichen Resultat: Steigende Einnahmen für einen Teil der Bevölkerung gepaart mit höheren Preisen für alle anderen.
Ich gehe auch heute noch gerne rauf zur Burgruine, schaue mich im maurischen Viertel um und gehe auf Entdeckungstour im Rest der Stadt. Wenn Sie am späten Abend auf der siebenbogigen Ponte Antiga sobre o Rio Gilão stehen oder sich gemütlich hinsetzen und den Blick in alle Richtungen schweifen lassen, kommen Sie aus dem Staunen nicht heraus: Die Sicht auf das Rund der Praça da Republiça ist schon beeindruckend, weil Sie die Uferstraße genau so im Blick haben wie den wunderschönen Platz selbst mitsamt der angrenzenden Läden, Restaurants und Cafés. Am anderen Ufer sehen Sie das abendliche Treiben in einem schönen und romantischen Stadtviertel, das sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter gemausert hat und dabei ist, dem historischen Zentrum die Aufmerksamkeit zu stehlen. Und dann sind da ja auch noch die Brücke und der Fluss selbst und öffnen Blicke Richtung Meer und ins Landesinnere. Spürt man auf der einen Seite die salzige Luft des Meeres, stehen auf der anderen geöffnete Restaurants und Häuser, die teilweise einen eigenen Bootssteg haben und ein wenig venezianisches Flair verströmen. Die alten Laternen auf der Brücke − die im Übrigen nur für Fußgänger geöffnet ist − sorgen für romantisches Licht und eine Stimmung, in der sich Verliebte − und diejenigen, die auf dem Weg dahin sind − sehr wohl fühlen sollten.
Mein Hotel ist bei diesem Besuch eher schlicht, hat aber eine Besonderheit zu bieten: Ich kann bis ganz nach oben auf’s Dach steigen und den grandiosen Blick in alle Richtungen genießen. Das ist vor allem am Abend ein Vergnügen, weil dieses Lichtermeer der Stadt genau so beeindruckend ist wie das bunte Treiben auf den angrenzenden Straßen.
Man kann von Tavira einige Ausflüge in die nähere Umgebung und auch in andere Städte wie Olhão, Faro oder Castro Marim machen. Mit dem Mietwagen ist man vermutlich flexibler und auch schneller. Dennoch bevorzuge ich meistens den Zug. Hier scheint sich im Laufe der Jahrzehnte kaum etwas verändert zu haben. Die Waggons wirken uralt, der Zug schleicht vor sich hin wie in den 1980er Jahren, die meisten Streckenabschnitte sind nach wie vor eingleisig. Und doch gefällt mir diese gemächliche Art des Reisens. Ich habe Zeit, kann lesen und suche hin und wieder das Gespräch mit den portugiesischen Mitreisenden.
Wenn Sie Fan von Fernando Pessoa sind, kommen Sie in Tavira auf Ihre Kosten, denn in der Rua da Galeria gibt es eine Bibliothek, die Casa Álvaro de Campos heißt und nach einem von Pessoas Heteronymen benannt ist. Den Hintergrund liefert Catrin George Ponciano in ihrem Buch 111 Orte an der Algarve, die man gesehen haben muss: »In Tavira sorgte seinerzeit der literarische Nachlass eines gewissen Jara für die Grundsteinlegung der Bibliothek und Fernando Pessoas Heteronym später für ihren Namen. Eine poetische Hommage an einen erfundenen Autor. Das Haus in Tavira gedenkt Fernando Pessoa und seinem Heteronym aus Tavira mit Literatursalons, literarischen Spaziergängen und Ausstellungen.« (S. 216)
Also: Wenn Sie schon nicht in Tavira nächtigen, ist zumindest ein Ausflug ein absolutes Muss, denn diese Stadt ist im Gegensatz zu vielen anderen Orten am Algarve wirklich noch »portugiesisch« geprägt. Wer nur an Action und Partys interessiert ist, wird Lagos vielleicht interessanter finden. Aber die Gefühle sind ja bekanntlich verschieden. Für mich jedenfalls ist Tavira nach wie vor eine wundervolle portugiesische Stadt mit großem Charme. Und das nun schon seit 35 Jahren!