Eindrücke von einer Reise nach Brasilien • von Catrin George Ponciano
> Brasil tem muitos rostos, sagt der Volksmund. Brasilien hat viele Gesichter. Das Lebenslos für den Großteil der Bevölkerung in Brasilien kann kaum stärker sichtbar werden, als auf einer Fahrt von Rio de Janeiro vom internationalen Flughafen Galeão durch kilometerlange Favela-Siedlungen bis zur Stadtgrenze − und von dort an weiter in die Serra de Bocaine bis nach Paraty in den idyllischen, einst portugiesischen Goldgräberhafen im Fjord Bahía de Paraty, etwa 250 Kilometer südlich von Rio, Richtung São Paulo gelegen.
Der Blick aus dem Busfenster auf die Suburbien von Rio de Janeiro deprimiert. Die Elendsviertel der Millionenmetropole wachsen stündlich. Das Material für die Kubus förmigen Behausungen, finden ihrer Erbauer auf der Straße. Im Müll. Auf stillgelegten Baustellen. In Neubauten und in Ruinen. Alles Baumaterial wird recycelt verwendet, bis man vier Wände und ein Dach hat. Man baut nebeneinander, übereinander, hintereinander und wieder übereinander. Die Hütten-Stufen klettern die Berghänge rund um Rio hinauf, fräsen sich hinein in Täler, an Ausfallstraßen entlang.
Die Favela-Bewohner richten sich ihr Leben ein mit allem, was ihnen unter die Finger kommt. Man behilft sich. Irgendwie. Wenn möglich legal. Wenn nicht, dann illegal. Alle behelfen sich und hoffen, dass es eines Tages anders wird, vielleicht besser, aber Hauptsache anders. Seit den letzten Präsidentschaftswahlen ist es anders. Schlimmer. Der soziale Abgrund klafft noch dunkler und noch tiefer auf für die Cariocas in den Favelas, allen voran für alleinstehende Frauen, und hier speziell für Frauen mit afro-brasilianischem oder indigenen Familienhintergrund.
Die Fahrt von Rio nach Paraty mit dem Bus dauert mit viel Glück und ohne Baustellen, Polizeikontrolle oder Stau, sechs Stunden. Die Hauptverbindungsstraße ist eine Schlaglochpiste, die der Busfahrer mit durchgetretenem Gaspedal nimmt. Die Klimaanlage im Bus steht auf eisgekühlt. Es ist Winter auf der Südhalbkugel der Erde. In der tropischen Bergregion rund um den Fjord herrschen 90% Luftfeuchtigkeit. Das Thermometer zeigt 26°C an. Muito frio, sagen die brasilianischen Mitreisenden. Im Juli wird es in Brasilien früher dunkel als in Portugal. Halb sechs Uhr dämmert es. Der Bus erreicht Paraty. Die Serra de Bocaine erhebt sich bis 2000 Meter Höhe rund um die Bahía de Paraty und umarmt den größten Fjord in Südamerika wie ein Schutzwall, der dieses winzige Paradies gegen die Großstadt-Molochs im Süden und im Norden abschirmt.
Im 17. und 18. Jahrhundert als Verladehafen von portugiesischen Goldgräbern und Großgrundbesitzern genutzt, strahlt Paraty exakt den charakteristisch historischen Charme eines Fischerortes aus, wie man ihn sich im Regenwald an der Küste vorstellt. Die einstöckigen Häuser mit ihren bunt eingefassten Fenster und Türen vermitteln augenblicklich ein Stück Portugal. Alle drei Kirchen erinnern an Gotteshäuser im ländlichen Portugal. Man feiert gerade die heilige Santa Rita. Die Stadt ist geschmückt mit bunten Wimpeln mit dem Antlitz der Maria Rita darauf gedruckt. Die Straßen von Paraty sind gepflastert mit großen runden Steinplatten, die durch das Jahrhunderte lange Befahren und das Einschwemmen von Meerwasser während der allmonatlichen Vollmondphase, die Wege holprig befestigen. Hier spaziert man von Stein zu Stein und trainiert den Gleichgewichtssinn.
Die Altstadt von Paraty atmet Partylaune ein und aus. Bars, Souvenirgeschäfte, schicke Restaurants sind Etablissements für diejenigen, die Paraty besuchen − für ein Wochenende, für Sommerurlaub oder für eine der unzähligen kulturellen Veranstaltungen, die das gesamte Jahr hier geboten werden.
Für die Einwohner von Paraty gehört ein Besuch in einem Restaurant in der Altstadt nicht zum Alltag. Dafür arbeitet ein Großteil der Bevölkerung in der Gastronomie und Hotellerie und partizipiert auf diese Weise.
Im Juli war Paraty auch in diesem Jahr wieder Bühne für eine Buchmesse der etwas anderen Art. FLIP − die 17. Festa Literária Internacional de Paraty (https://www.flip.org.br/) − vereint in einem Straßenfest vier Tage lang die brasilianische mit der internationalen Literaturlandschaft. Unterstützt unter anderem von der Frankfurter Buchmesse mit einer Delegation deutscher Autoren und Verlagsfachleuten sowie vom Goethe-Institut Rio de Janeiro mit deren Transport und Unterbringung, und von vielen anderen Kulturinstitutionen aus Europa, verkörpert FLIP eine Schnittstelle zwischen südamerikanisch und europäisch geprägter Literatur und verleiht dem Event ein einmalig exotisches und gleichzeitig internationales Flair. Beteiligte Verlage mieten Ferienhäuser und transformieren diese in Casa Begegnungsstätten, in denen Debatten, Lesungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen und andere Event-Formate rund um das Buch stattfinden, und die die ansässige Bevölkerung, eigens angereiste Messebesucher sowie Literaturkollegen aus ganz Brasilien und Europa zusammenführen.
In diesem Jahr vibrierte FLIP besonders unter der wachsenden Angst vor Zensur in Brasilien. Das Thema, ob und wie Kritik am Bolsonaro-Regime künftig mögliche Repressalien provoziert, wurde politisch, gesellschaftskritisch und ethisch mit Argumenten untermauert. Gerade die ausländischen Mitwirkenden beäugten diese neue Gefahr in ihrem Gastland kritisch und äußerten sich offen in Vorträgen unter anderen über Menschenrecht, Erinnerungskultur, Pressefreiheit, Homosexualität.
Von morgens bis nachts wurden Bücher und ihre Autoren vorgestellt, inländische wie ausländische, Genre querbeet. Paraty summte den Buchstaben-Blues der weiten Welt, atmete Geschichten über ferne Länder ein und kraftvolle Poesie aus, wurde konfrontiert mit Bestseller-Autoren, die ihre in viele Sprachen übersetzten Werke vorstellten, und mit Müllfrauen aus São Paulo mit ihrem preisgekrönten Kochbuch darüber, wie man weggeworfene Lebensmittel in Nahrung transformiert. Jedes Mittel zu Ausdruck fand eine Bühne. Poetry-Slam, Rap, Samba, Musik, Theater. Neben Buchpräsentationen gab es jede Menge Live-Acts auf dem FLIP Praça Aberta, in den Casas, in den Gassen der Altstadt von Paraty, die just drei Tage vor FLIP-Beginn zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Die harmonisch funktionierende Interaktion und Integration zwischen den lokalen steinzeitlich bis mittelalterlichen Kulturspuren und den überlebenden indigenen nach wie vor ansässigen Stämmen formen eine einzigartige Kulturidentität. Dies und die schützenswerte Flora und Fauna in dieser fünftgrößten biodiversen Regenwaldlandschaft weltweit gaben den Ausschlag für die Erhebung. (https://whc.unesco.org/en/list/1308/)
Die UNESCO-Erhebung ist wichtig für Paraty − besonders für die Anwohner. Mit den künftigen finanziellen Kulturfördermitteln können die Altstadt und die Natur erhalten und für die Anwohner in den Randgebieten bessere Konditionen geschaffen werden. Dazu zählen sanitäre Einrichtungen, geregelte Müllabfuhr, Spielplätze, Arbeitsplätze, urbane Landwirtschaft, damit das idyllische Gesicht von Paraty und die lokale Kulturidentität nicht genauso verwahrlosen wie die von Rio de Janeiro.
Beim Abschied von Paraty, von FLIP, von Brasilien wiegt der Koffer schwerer als bei der Ankunft. Liebenswerte Erinnerungen an intensive Begegnungen mit Ádria, Mara, Renata, Almerinda und unzähligen anderen Frauen, die auf ihre Weise Brasiliens Zuständen den Kampf angesagt haben und versuchen, aus ihren Lebensumständen trotzdem das Beste zu machen, unabhängig davon, ob als Müll-Frau in São Paulo oder als Angestellte in einer Kulturinstitution, erfüllen mein Herz mit Licht.
Die Erinnerungen an FLIP in Paraty, an den Ausflug an Bord hinein in die Inselwelt der Bahía bis zur Insel Ilha Grande, die Begegnung mit Daniel, dem Bootseigner, und Talita, der Umweltaktivistin, das paradiesische Zusammentreffen mit der brasilianischen Tropenwelt und ihren exotischen Vögeln, Reptilien, Affen und Fischen und auch der Sprung mit Taucherbrille in die Meereslagune markieren mein Leben für immer. Licht und Schatten sind mir in Brasilien begegnet, die unterschwellig allgegenwärtige Angst vor der Zukunft ebenso. Die Schönheit der Landschaft hat mich fasziniert, die Liebenswürdigkeit der Menschen, denen ich begegnet bin, überwältigt, die Armut und ihre Ausweglosigkeit trostlos berührt.