Über den Schriftsteller John Dos Passos (1896–1970) und seine portugiesischen Wurzeln • von Dr. Ingolf Wernicke
> Der außerordentliche Beitrag, den John Dos Passos zur modernen, amerikanischen, zeitgenössischen Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere mit seinen Hauptwerken wie Manhattan Transfer und U.S.A.-Trilogie geleistet hat, ist heute unbestritten. Er gilt heute neben dem irischen Schriftsteller James Joyce, neben Gertrude Stein, Aldous Huxley und seinem Freund Ernest Hemingway als einer der herausragendsten Schriftsteller, der sich wie viele andere Künstler, Poeten und Musiker mit der schnellen Umwandlung der USA in ein industriell geprägtes Land mit westlicher Kultur während des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beschäftigt hat. Das Einzigartige der Romane von John Dos Passos sind im literarischen Sinn sein Kameraauge, seine einer Wochenschau ähnelnde Berichterstattung, sein satirischer Erzählstil sowie seine biographischen Entwürfe. Unter Verwendung von Techniken aus Bereichen des Journalismus, des Kinos, der Musik und der Fotografie erfand John Dos Passos einen vollkommen neuen Erzählstil, der die sozialen und politischen Auswirkungen der technischen Entwicklung wie z. B. von Auto, Flugzeug u.a. auf das Leben der Menschen beschrieb. Er publizierte zahlreiche Bestseller und erhielt 1957 in den USA vom National Institute of Arts and Letters in der Kategorie «Fiction» die Goldmedaille.
Der amerikanische Schriftsteller bedauerte es allerdings einmal im einen Interview im Eco do Funchal (Juli 24, 1960, S. 1 + 2), dass er nicht die Sprache seines Großvaters − portugiesisch − sprach, obwohl er bereits als Kind im Alter von acht Jahren durch seinen Vater während eines mehrwöchigen Besuchs von Madeira das Land und seine familiären Wurzeln erstmals kennengelernt hatte.
Sein Großvater, Manoel Joaquim Dos Passos, wurde 1812 in Ponta do Sol auf Madeira geboren, emigrierte 1830 in die USA, lebte in Baltimore und Philadelphia. Er heiratete Ann Cattel, die John Randolf Dos Passos (1844–1917) als Sohn gebar. Dieser wurde später Rechtsanwalt, heiratete Lucy Addison Sprigg und beide wurden die Eltern von John Roderigo Dos Passos, der 1896 in Chicago geboren wurde. John Dos Passos studierte an der Harvard Universität Literatur, in Spanien Architektur und meldete sich 1917 als Freiwilliger Soldat in eine Sanitätseineinheit während des Ersten Weltkrieges nach Frankreich. Nach der Veröffentlichung seines Werkes Three Soldiers unternahm er 1921 wieder eine kurze Reise mit einer Autorengesellschaft nach Madeira. Er arbeitete als Autor, Journalist und auch als Maler mit zahlreichen Ausstellungen und bereiste darüber hinaus Europa, Südamerika und auch die Sowjetunion. 1930 publizierte er seinen Welterfolg Manhattan Transfer, während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er als Journalist für das Magazin Life und berichtete nach dem Krieg über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
1960 besuchte John Dos Passos nun, diesmal mit seiner Frau Elisabeth Hamlin und seiner Tochter Lucy, die Insel Madeira. Hier wurde die amerikanische Familie von Verwandten und Politikern der Insel willkommen geheißen. 1966 beschrieb Dos Passos in seinem Werk The Best Times seine Erinnerungen an den Geburtsort seines Großvaters und die Eindrücke seiner Reise: «He was born in Ponta do Sol, a tiny town buried in a deep gash in the mountain a few miles east of Funchal, (…)» Er beschrieb ferner den kleinen Strand aus Geröll, die Fischerboote und die Weinstöcke an den schroffen Berghängen. Kleine unregelmäßige Felder zum Ackerbau ernährten einst die Menschen. Als Jugendlicher nach seinem ersten Besuch von Madeira im Jahre 1905 dachte er, dass die Menschen in Ponta do Sol ausschließlich Kleinbauern waren, die ihr Land bepflügten. Bei seinem Besuch 1960 bemerkte er, dass es mittlerweile Kontore, Schreibstuben, Notariate und Büros von kleineren Amtspersonen und Priestern gab. Im Zentrum des Ortes besuchte er die an einem Hauptplatz gelegene, solide gebaute und mit sieben Sternen des Zeichen des Großen Bären über dem Haupteingang versehene Villa Passos, den Wohnsitz seiner Vorfahren.
1967/1968 unternahm John Dos Passos weitere Reisen durch die USA, nach Italien und nach Portugal. Hier recherchierte er für sein letztes Werk, das den Literaturkennern wahrscheinlich weniger bekannt ist, und den Titel hat The Portugal Story − Three Centuries of Exploration an Discovery. In dieser Publikation, die innerhalb seines Gesamtwerkes als letzte historische Erzählung 1969 erschienen ist, beschreibt John Dos Passos in lebendigen eigenen Geschichten die größeren und vermeintlich kleineren Ereignisse, die Portugal ab dem 15. Jahrhundert zur bedeutendsten Macht Europas gemacht haben. Das Werk untergliedert sich in die Kapitel »Wie Portugal entstand«, »Die Erben der Abendteurer«, »Die Unternehmung Indien«, »Der Höhepunkt der portugiesischen Herrschaft« und »Portugal in Amerika«. Interessant sind dabei die sehr umfassend und faktenreich geschilderten einzelnen Kapitel wie z. B. »Vasco da Gamas letztes Kommando« oder »Die Plünderung eines halben Kontinents.« In seinen Darstellungen erkundeten die portugiesischen Karavellen bereits im frühen 15. Jahrhundert die Küste Afrikas und stießen auf die Inseln im Mittelatlantik. Ein Jahrhundert später kreuzten die großen Galeonen nach Brasilien und umfuhren das Kap der Guten Hoffnung, um in der Ferne die östlichsten Randgebiete des Orients wie die Molukken und Nordaustralien zu erkunden. Oftmals begaben sich die Portugiesen dabei in tödliche Konflikte. Nach Meinung von Dos Passos übte Portugal während der Zeit der Seefahrt gegenüber Juden Toleranz aus, da viele als Astrologen, Geographen und wissenschaftliche Berater am Hofe der portugiesischen Könige arbeiteten.
Ohne auf die einzelnen Fakten seiner Geschichte Portugals eingehen zu wollen, kann man auf jeden Fall auf der Basis seiner biographischen Daten und dieser historischen Erzählung feststellen, dass auch bei John Dos Passos, einem berühmten Amerikaner, der in dritter Generation von einem Einwanderer aus Madeira abstammte, die familiären Wurzeln sowie die tradierte Geschichte und Kultur seiner Vorfahren und deren Heimatland eine außerordentliche Bedeutung für ihn gehabt haben. 1970 starb John Dos Passos in Baltimore, Maryland.
In Ponta do Sol auf Madeira entstand anlässlich seines 100. Geburtstages 1986 im Jahre 1989 die Idee der Einrichtung eines Kulturzentrums in der Villa Passos, die im Jahr 2000 von der Regionalregierung zusammen mit dem Grundstück erworben wurde. 2004 wurde in Anwesenheit des Präsidenten der Regionalregierung Madeiras, Dr. Alberto João Jardim und der Tochter des Schriftstellers, Lucy Dos Passos Coggin und ihrer Familie das John Dos Passos Cultural Center das um einige Gebäude erweitert wurde, eröffnet: https://cultura.madeira.gov.pt/centro-cultural-john-dos-passos. Im Zentrum existiert heute ein große Leih-Bibliothek, die Dra. Carmo da Cunha Santos Library mit vielen Periodika und circa 6000 Büchern, die über die Botschaft der USA in Lissabon und von vielen privaten Leihgebern gestiftet wurden. Die Werke von John Dos Passos befinden sich hier in 18 Sprachen übersetzt. Außerdem gibt es ein kleines Museum mit einem Schlafzimmer aus dem 19. Jahrhundert aus Mahagoni, das den Großeltern Manoel Joaquim Dos Passos gewidmet ist, sowie eine Küche aus der Zeit der Großeltern, die in Kooperation mit der Casa do Povo de Ponta do Sol mit Workshops, zu regionaler und traditioneller Gastronomie und zu bestimmten Bräuchen, betrieben wird. Zum John Dos Passos Centro Cultural gehört außerdem ein Auditorium mit 180 Sitzplätzen. Hier werden Theateraufführungen, Kinoabende, Konferenzen, Colloquien und auch Bildungsaktivitäten veranstaltet. Wer als TouristIn auf Madeira nicht nur die Wanderwege in den Bergen wie z. B. zwischen dem Pico do Arieiro und dem Pico Ruivo, auf den Hochebenen oder auch entlang der zahlreichen Levadas der Insel abwandern will, sollte unbedingt das Kulturzentrums John Dos Passos in Ponta do Sol besuchen.
Literatur: JOHN DONALD SILVA, The Magnolia Lectures, Funchal, Madeira, 2014, (S. 203 bis 243). Mit zwei Vorträgen über John Dos Passos und seine Bedeutung für die Weltliteratur, die Prof. John D. Silva, Freund des Autors und seiner Ehefrau, im Kulturzentrum John Dos Passos in Ponta do Sol 2010 und 2011 gehalten hat. Prof. John Donald Silva unterrichtete 42 Jahre an der Universität von New Hamp-shire (USA) Englisch und besucht seit 1987 jährlich für mehrere Monate im Jahr Madeira, um nach seinen portugiesischen Wurzeln zu forschen. Sein Großvater José Abreu Silva emigrierte 1880 von Madeira in die USA.