Quo vadis, portugiesische Fröhlichkeit?
Ein Protokoll hinter der Maske • von Ana Carla Gomes Fedtke und Eberhard Fedtke
> Wir leben in Isolation, lock-down auf Englisch. Es ist die reine Tristesse. Wir erledigen Dinge, welche seit Monaten aufgeschoben sind: öffnen Zeitschriften, welche noch in der Plastikverpackung stecken, schreiben mehr Erinnerungen in unser Tagebuch, streichen die Wand unseres Esszimmers, säubern das Innere unseres Autos, erneuern den Garten, beenden Reparaturen in der Garage. Machen alles ohne großartige Motivation. Es fehlen Originalität und Notwendigkeit. Illusorische Zuneigung ist es, angefüllt mit viel Zweigesichtigkeit. Was uns wahrhaftig fehlt, ist eine lebendige Außenwelt, die Feuerwerkskörper alle Wochenenden Woche für Woche im Sommer in den umliegenden Dörfern. Außer diesen inspirativen Festen fehlen uns die farbenfrohen Märkte, ihre Gerichte aus typisch portugiesischer Küche, naturbelassen und schmackhaft, alles unter dem penetranten Lärm von Folklore-Musik aus brutalen, aber angenehmen Lautsprechern. Es fehlt uns der Gesang der Motorboote auf dem Stausee unterhalb unseres Hauses, dem Stausee von Caniçada, uns fehlt der Ozean mit seiner intensiven Realität. Es gehen uns die ehrlichen Umarmungen und anregenden Küsschen unserer Freunde ab. Diese ganze Welt hat die Gestalt eines kannibalischen Traumas. Man kann nicht am öffentlichen Sport teilnehmen. Fußball in einem Stadion ohne Zuschauer ist wie eine Suppe ohne Salz und Gewürze. Das ganze Volk nimmt teil, jedoch auf Distanz. Die Erde frisst ihre Kinder auf, die Pandemie erfreut sich an ihren Leckerbissen. Immer mehr scheint das Land aus dem Leim zu gehen, auf allen sozialen Ebenen und in strukturellen Zusammenhängen, die Zivilisation strangulierend.
Wir verbringen schon die zweite dieser filigran schwierigen Quarantänen, doch selbst eine solche schmuckvolle Stille, derart ausgedehnt, bietet vielerlei Ähnlichkeit mit der sanften, friedlichen, wenn auch kühlen Atmosphäre eines Friedhofs, diese Anlagen, wie nie zuvor, en vogue. Wir machen von der Gelegenheit Gebrauch, über Whatsapp mit Familienangehörigen, Freunden, Kollegen zu sprechen, von denen einige verloren gegangen sind im autodidaktischen homeworking. Über Zoom nehmen wir an Konferenzen und Besprechungen teil, eine für Portugiesen, welche die Haut der anderen zu spüren und zu riechen benötigen, außerordentlich unpopuläre Sache. Mit ihnen kommunizieren wir auf Distanz, um zu erfahren, welche Perspektiven die anderen haben, welche intellektuellen Rezepte und welche praktischen Instrumente ihnen einfallen, um 24 Stunden über 24 Stunden in diesem hygienischen Gefängnis zu überleben, in Gemeinschaft mit einem unsichtbaren Feind, und wie sie die Zukunft sehen. Fürchten sie eine neue Welle eines lockdowns, eine weitere Mutation des superpotenten und ultraaktiven Virus? Und, sofern am Ende die Personen nicht nur ein Maske benutzen müssen, sondern außerhalb des Hauses einen vollständigen aseptischen Anzug, als betrachte sich die derzeitige Menschheit, ausnahmslos, auf einen Operationstisch der Geschichte gelegt? Kann es sein, dass die malträtierte Natur rigoros und hart reagiert, um die Spezies mit zwei Armen und zwei Beinen auszulöschen, welche fortgesetzt das Ambiente missachtet, ohne angemessene Würde und Solidarität mit anderen Lebewesen von Blut und Kopf ihre Reichtümer nutzt und ohne Scham Dekade für Dekade ungezählte Tiere und Pflanzen eliminiert, Fauna und Flora zum Sterben verurteilt sind? Lamentiert vehement unsere Blumenfrau, dass der Virus schuld daran sei, dass es im Jahr 2021 es nicht genügend Zitronen gibt sowie Palmen in großen Mengen sterben. Etwas übertriebene Panik einer Alten oder profunde Sensibilität einer Prophetin, welche weitere Umweltkatastrophen vorhersagt?
Wir glauben nicht den spekulativen Versprechungen sowie dilettantischen Ausstrahlungen von Fernsehen, Radio und anderer blinder Presse, deren Anliegen es ist, monoton die falsche Analyse eines einfachen Interims in dieser gestörten Welt zu wiederholen, während das globale ökologische und sanitäre Ungleichgewicht täglich zunimmt, um nur auf die Meere zu schauen, die sich schließlich in große Mülleimer verwandelt haben, ideal für die Verbreitung von Mikroben und jedweden anderen Typen von Viren. Der allgemeine Zustand ist bereits zum Erschrecken angetan, doch es kann gut eintreffen, dass im Jahr 2029 das berühmte Covid-19, unser und unserer Kinder und Enkel Dauerbegleiter, in guter Verfassung zehn Jahre eines grausamen Geburtstags feiert.
Wir suchen mit Sorgfalt weitere Meinungen und Kommentare unserer Gesprächspartner aus. Es ist eine illustre Mischung von positiven und negativen Antworten, bewegte, gekünstelte, besorgte und abstruse: ein Spiegel und echtes Kaleidoskop unserer dermaßen kranken Gesellschaft. Wir offerieren eine repräsentative Auswahl, stets mit originellem Inhalt, mit seltenen Standpunkten, einige selbst außerhalb der Nachvollziehbarkeit, wenn nicht fast lächerlich. Ohne eine Rangfolge der Wichtigkeit berichten wir:
Ein erster Freund berührte unsere Seele, in dem er sich weinend darüber beschwert, wie ihm die Fado-Abende fehlen, für ihn eine echte musikalische Liebhaberei, ernsthaft allemal. Diese Musik ist angefüllt von Pros sowie Contras der täglichen Gegenwart und des wahren Lebens, indes lehnt er kategorisch ab, dass die Pandemie das »Zeug zu einem mythologisch würdigen Inhalt« für Fado habe. Ein anderer fühlt sich traumatisiert von dieser Attacke auf die menschliche Gesellschaft, zeigt sich dennoch überzeugt, dass die moderne Medizin diesen schwierigen Kampf bestehen werde. Er glaubt daran, dass die Medizin stets in der Geschichte mit Erfolg sämtliche Epidemien und Pandemien überstand, mit hervorstechender reproduktiver Kraft und der Fähigkeit, sich der natur-medizinischen Instrumente zu bedienen, dieser Kräfte, welche in früheren Zeiten weniger entwickelt waren, selbst dauere Covid-19 bis zum Jahr 39 oder 49, verteidigt er seine Meinung. Ein dritter, befragt, ist sehr befriedigt über die wohltuende Pause der Flugzeuge »über meinem Dach«, lobt die sauberere Luft, die neue Ruhe der verbitterten, jetzt erwachenden Umwelt, die gesamte Natur viel grüner, ein vernünftiges Verbot mit guter Alternative für einen »wild daher stürmenden Tourismus«. Die teilweise Untersagung von Straßenverkehr in Städten, den Stopp der Kreuzfahrtschiffe, diese touristischen Fabriken von Schmutz und Schändung, entnehmen wir als gute Note seiner Perspektive. Ein anderer Freund von uns bejammert das Martyrium der unschuldigen, höchst betroffenen Kinder, welche für die unverantwortlichen Fehler eines frivolen Lebens, super luxuriös und glamourös auf Kosten anderer, »bezahlen müssen«, zur Klarstellung: der vorhergehenden Generationen, Großeltern und Eltern einbegriffen. Eine Frau beweinte, dass viele Menschen, vornehmlich Arbeiterinnen, Frauen, wegen der Pandemie ohne Arbeit sind, und für viele schutzlose Kinder fehle das »nötige tägliche Brot», um das wir im Vaterunser bitten. Eine gläubige Frau erklärte uns, mit Ruhe und in voller Überzeugung, diese physisch spürbar, dass dieses ganze aktuelle Szenario, überhaupt nicht poetisch und so beunruhigend für viele, welche die Bibel mit ihren reichen Parabeln und Prophezeiungen nicht kennen, daran erinnert, dass es im »Buch des Lebens«, ihrer Meinung nach in Kapitel 11, Abteilung 18, über die Apokalypse gemäss dem heiligen Johannes geschrieben steht: »Es verschwinden die Völker, und ich sehe Deinen Zorn, und die Zeit der Toten, damit sie geurteilt werden, und die Zeit, den Propheten, Deinen Diener, sowie den Heiligen und diejenigen, Kleinen und Großen, die Deinen Namen fürchten, ihren Lohn zu geben, und die Zeit, diejenigen zu vernichten, welche die Erde zerstören.« Sie war lediglich sehr besorgt über die Verehrung der Heiligenfiguren in Kirchen und Heiligenstätten, wo die Leute die ausgestellten Exponate mit der Hand berühren, einige von ihnen sie – unglaublich – küssen! So sind Kirchen und Heiligenstätten Quellen sich endlos wiederholender Infektionen? Das kann nicht, das darf nicht sein.
Ein Freund, Philosoph von Beruf, mit luzider Stimme sowie den seltenen virtuellen Fähigkeiten der Astrologie, sagte ein Zukunftsbild eines unausweichlichen Erdbebens, gefolgt von einem apokalyptischen Sturm, voraus, sodass in der verbleibenden Welt lediglich friedliche Fauna und Flora verbleiben, schloss indes nicht die Möglichkeit aus, dass ein Großteil der Menschheit ins Universum entflieht, die Vorbereitungen dafür, wie unsere Gegenwart belegt, schon gut vorangeschritten, um ihre Konflikte und Kriege auf anderen Sternen und in kalten Galaxien fortzuführen. Ein medizinischer Freund kündigte ein radikales virus-lifting mit neuen Medikamenten an und ignoriert strikt den Bankrott der menschlichen Rasse. Im Gegenteil betont er eine glorreiche Wiedergeburt und Reanimation, mit neuen Verhaltensregeln sowie neuen und fortentwickelten Mechanismen, um die Natur sowie ihre Quellen zu schützen und zu retten, damit ein »Mensch ohne Maske« wiederkehre. Eine Dame, unter uns Freunden bekannt für ihre angenehme Obzession, mit lyrisch angemalter Rhetorik antipandemische Hoffnung zu verbreiten, sieht unendliche Freude in Abstraktionen der Gesundheit, schließlich faszinierende Reliquien in rosigen Horizonten. Eine weitere erklärte, sie sähe in der Diskussion über Virus und Pandemie eine sehr unterhaltsame Konspiration und Manipulation außerirdischer Individuen, um das Unglück auf der Welt zu verstärken, bevor sie sie besetzen. Es bedürfe eine starken Rebellion gegen diese schwarze Infiltration, fordert sie mit vor Zorn glühenden, grünen, gotischen Augen, in WhatsApp gut sichtbar. Ein letztes Signal kommt von einem Musikerfreund, zur Zeit im Hospital wegen des Virus Covid-19, welcher mit schwächlichen Worten, schon über den Pandemiewolken schwebend, triumphierend flüstert: »Wenn ich den Himmel betrete, werde ich mit einem ersten Versuch den hochverehrten Herrn Beethoven suchen und ihm im Namen der ganzen menschlichen Gesellschaft für die Faszination seiner Musik, die ´vollständig überweltlich´ ist, danken.« Geduld, mein Teurer, für diese Aufmachung, absolut berechtigt, haben wir Zeit. Welch ein Unterschied, denke ich mir, zwischen der Sorge unserer Blumenfrau und der unseres Musikus, beide mit dem Recht auf intime Aktualität.
Schließen wir diese kleine ausgewählte Sammlung und resümieren die unverdächtige Tatsache, dass alle portugiesischen BürgerInnen sich im Prinzip von dieser gefährlichen Misere, letzter hygienischer Anakronismus unserer Gesellschaft, angerührt fühlen. Alle sind voller solidarischer Aktivitäten und stärkster Hoffnung. In unserer persönlichen Statistik bewertet die Hälfte das Chaos mit positiver Aussicht, die andere Hälfte mit vielfältigen persönlichen Bedenken, eines Tages ohne diese Geissel des 21. Jahrhunderts zu leben, wobei in dieser Situation nicht viel Zeit verbleibt, gar nicht daran zu denken, dass es für dauerhaft sein könnte, ähnlich dem, was im Karneval von Venedig passiert, dieser italienischen Stadt, welche für ihre historischen Masken berühmt ist, im hohen Maße erfinderisch und geistreich, außergewöhnlich und absolut spektakulär. Die Pandemie ist in der gesamten Welt nicht lediglich ein Stummfilm, sondern schreit hinter Millionen von Masken nach Hilfe.
Die vollständige, wahre Chronologie der Corona-Pandemie wird vielleicht erst, wer weiß, von unseren Urenkeln geschrieben werden. Hoffen wir es nicht! Um im guten Gleichklang mit der portugiesischen Sprache zu bleiben, sagen wir lediglich und urteilen: Wir werden sehen, ob es gelingt, das Beste zu unternehmen, um diesem sozialen Fegefeuer ein Ende zu bereiten.