Erinnerungen an José Saramago

Foto des portugiesischen Schriftstellers José SaramagoDer portugiesische Schriftsteller José Saramago · © Rainer Bettermann

Erinnerungen an José Saramago¹

von Rainer Bettermann

> Im November 1976 schickte ein kleines deutsches, heute fast vergessenes Land einen kulturellen Gesandten nach Lissabon, der dort die deutsche Sprache und ein schönes Bild dieses Landes verbreiten sollte. Aus dem Lehrer wurde unvorhergesehen ein Schüler, Entdecker einer anderen kleinen Welt. Die Grenzen zwischen beiden Welten aber waren streng gezogen. Also mussten nach der Rückkehr Wege gefunden werden, sie zu überwinden. Es begann ein paralleles ­Leben mit portugiesischer Sprache und Literatur. Freunde schickten mir Bücher aller möglichen Autoren: Luís de Camões und Eça de Queiroz, Florbela Espanca und Fernando Pessoa, Augusto Abeleira und Baptista-Bastos, Almeida Faria und José Rodrigues Miguéis, Maria Velho da Costa und Manuel da Fonseca und viele andere mehr.

Eines Tages war es aber vorbei mit der eskapistisch-nostalgischen Lektüre. Mit einem Buch kam die nachdrückliche Bitte der Absenderin, es in die deutsche Sprache zu übersetzen.

Es begann ein aufregendes und anstrengendes paralleles Leben mit dem Roman Levantado do Chão (Hoffnung im Alentejo, Übersetzung Rainer und Rosi Bettermann). Jede freie Minute galt nun Domingos Mau-Tempo, Sara da Concei­ção, João Mau-Tempo und Faustina, António Mau-Tempo, Manuel Espada und Gracinda, Sigismundo Canastro, Maria Adelaide und all den anderen. Es hieß, mit ihnen zu leben und zu leiden und den verschlungenen Pfaden des Autors zu folgen. Nur ein kleiner alter Langenscheidt und ein ebenso altes Pequeno Dicionário da Língua Portuguesa waren bei der Hand und so blieben viele Fragen und Zweifel. Mein erster Brief erreichte in der Rua da Esperança 76 in Lissabon einen José Saramago, der sich gerade in einem Erschöpfungszustand befand, den die Arbeit an dem Roman Memorial do Convento (Das Memorial, Übersetzung Andreas Klotsch) verursacht hatte. Die daher späte Antwort vom 17. Juni 1983 hielt eine Überraschung parat:

(…) Und um zu beginnen, gasgarro (p. 100) ist ein Wort, das es gar nicht gibt. Es wurde direkt beim Schreiben erfunden und versucht gleichzeitig auszudrücken Kehle, Schlund, aufgerissener Mund, kurzum gasgarro ist eine Erfindung des Autors, die mein Freund mit einer ähnlicher Intension übersetzen muss, in dem Maße wie die deutsche Sprache es erlaubt (…) (José Saramago, 17. Juni 1983, Lissabon).

Es blieb oft ein Gefühl der Unsicherheit oder Unzufriedenheit, ob die gewählten deutschen Ausdrücke auch genau den bildhaften portugiesischen Wörtern und Wendungen entsprachen. 

Aus einem Brief von José Saramago an Rainer Bettermann

Aus einem Brief von José Saramago an Rainer Bettermann

Saramago schrieb tröstend dazu: 

(…) mein Freund ist ein Übersetzer mit Zweifeln, ein leider seltener Fall mit den bekannten schlechten Resultaten. 

Der erste Brief endete mit einem halb illusorischen, halb hoffnungsvollen Versprechen: 

Und wenn mein Freund nach Portugal zurückkehrt, dann ist es jetzt schon abgemacht, dass ich ihn zum Alentejo mitnehmen werde, an alle Orte, an denen die Helden des Buches lebten und an denen heute andere Helden leben, deren Geschichte eines Tages erzählt werden wird (José Sara­mago, 17. Juni 1983, Lissabon). 

Doch leider blieb diese gemeinsame Reise ein Traum.

Auch die erste Begegnung liegt unter einem traumhaften Schleier: Ich gehe die Rua da Esperança aufwärts. Am Ende der menschenleeren Straße steht einsam eine hohe Gestalt, eine Schirmmütze schützt das Gesicht vor der Mittagssonne, ein graues Sommerjackett hängt über den Schultern, das olivfarbene Hemd ist oben aufgeknöpft, durch eine Hornbrille  blicken freundliche, aufmerksame Augen. «Olá, é o Rainer», sagt die Gestalt mit sanfter Stimme. Wie in seinen Büchern lässt José Saramago offen, ob es Frage oder Feststellung ist. »Wir werden uns beim Essen unterhalten.« Wir betreten ­eines dieser Restaurant-Cafés, in denen jeder Tisch, jeder Stuhl und jeder Gast seit Fernando Pessoas Zeiten zu sagen scheint: »Lass dir Zeit, komm und fühle dich wohl!« Wir essen, trinken roten Wein und lösen in zunehmend angeregter Stimmung meine auf einem Zettel notierten Fragen. 

Dieselbe hochgewachsene Gestalt schreitet an einem regnerischen Tag des Jahres 1986 in Trenchcoat und mit Regenschirm durch den Check Point Charlie, den berühmt-berüchtigten Grenzübergang zwischen dem geteilten Berlin. José Saramago kommt zur Präsentation von Hoffnung im Alentejo in das kleine deutsche Land. In einem Café sinnieren der Leiter des Aufbau-Verlags und José Saramago über einen noch zu schreibenden großen Jahrhundertroman. Mit einigem Wirbel werden später José Saramago und Hoffnung im Alentejo der Öffentlichkeit präsentiert. 

José Saramago schreibt und schreibt und schreibt und meine nächste deutsche Übersetzung dauert und dauert und dauert.

Mein lieber Rainer, (…) Rowohlt wartet mit Ungeduld2 (das Wort ist sicher übertrieben) auf die Übersetzung des Ricardo Reis3 (…) Wie auch immer, schicke mir alle deine Zweifel, so wie abgemacht. Hier eine große Umarmung deines unmensch­lichen Freundes José Saramago (José ­Saramago, 25. Oktober 1986, Lissabon). 

Endlich konnte ich die Übersetzung des Ricardo Reis abschließen. Man fragte mich, ob ich der Hausübersetzer von José Saramago werden möchte. Was würde dann aus Beruf, Familie und allerlei nebenbei? Ich lehnte seufzend ab. 

Das kleine deutsche Land stolperte in eine Krise. José Saramago, der mit História do Cerco de Lisboa (Geschichte der Belagerung von Lissabon, Übersetzung Andreas Klotsch) voll beansprucht war, antwortete spät auf meinen offenkundig melancholischen Brief: 

Wir durchleben schwierige Stunden, wissend, dass die Ideen gerecht sind und ihre gerechte Anwendung ganz sicher zum Glück der armen Leute beitragen wird, die wir sind und sehend, dass sie fehlerhaft, verfälscht, ja pervertiert angewendet werden. Das ist hart für den, der den einfachen Ausweg ablehnt, einfach die Ideen zu wechseln (José Sara­mago, 23. Februar 1989, Lissabon).

Notiz für den Saramago-Übersetzer Rainer Bettermann

Notiz für den Saramago-Übersetzer Rainer Bettermann

Als das kleine deutsche Land kurz vor seinem Ende die Grenzen öffnete, war das Reisen endlich für alle und überallhin möglich geworden. Endlich konnte die ein Jahr zuvor erfolgte Einladung Saramagos Wirklichkeit werden. Also auf nach Lissabon! Der August war heiß. In der Dach-Wohnung in der Travessa das Mercês im Bairro Alto war es heißer noch als heiß. Ein wenig erfrischende Erholung bot nachts die nahe gelegene Bank am Alto da Santa Catarina, dort wo die beiden Alten aus O Ano da Morte de Ricardo Reis gesessen und den «espectador do espectáculo do mundo», den Zuschauer des Welttheaters Ricardo Reis beobachtet hatten.

11. August, Sonnabend 1990: Abends bei José Saramago zu Gast. Er quetscht uns aus über die Lage in der DDR. Sozusagen Informationen aus erster Hand. Seine junge Frau Pilar, eine Andalusierin, hat ein vorzüg­liches Abendbrot zubereitet (…). 

Zum Schluss zeigt uns Pilar Saramagos Bücher in unzähligen Übersetzungen und Ausgaben. Er tut etwas schelmisch, so als ob er sie nicht mehr sehen könnte (Christel Bettermann, Reisetagebuch 1990).

Dann zog sich José Saramago zurück. »Er muss jetzt schreiben«, meinte Pilar freundlich und bestimmt. Woran er wohl schreiben mochte? Vielleicht am Roman O Evangelho Segundo Jesus Cristo (Das Evangelium nach Jesus Christus − Übersetzung Andreas Klotsch), der soviel Staub aufwirbeln sollte.

Im Oktober 1998 gab es ein freudiges Wiedersehen auf der Frankfurter Buchmesse. Ich kam zum portugiesischen Stand, Saramago löste sich aus dem ­illustren Kreis von Literaten und wir ­umarmten uns. Zum Glück kam die Nachricht von der Vergabe des Nobelpreises für Literatur an José Saramago erst ­danach, denn bei dem einsetzenden ­medialen Trubel wäre diese unverhoffte Begegnung so nicht möglich gewesen. Vieles ändert sich nun für José Sara­mago…

Am 29. Oktober 2004 war José Sara­mago mit seiner deutschen Managerin Ray Güde-Mertin in Leipzig. Vorgestellt wurde O Homen Duplicado (Der Doppelgänger, Übersetzung Marianne Gareis). Wir fuhren natürlich von Jena nach Leipzig, aber ein spontanes Treffen war in dem Gedränge nach der Lesung nicht möglich. José Saramago erfuhr zwei Jahre später von der verpassten Gelegenheit. Ich hatte ihm ein in Leipzig geschossenes Foto geschickt und es postwendend mit seiner Widmung zurückbekommen. So hatte die Begegnung doch irgendwie stattgefunden.

Mein lieber Rainer,
ich weiß nicht, ob du meinen letzten Roman As Intermitências da Morte4 erhalten hast. Es ist ein zugleich ernstes und unterhaltsames Buch (…) Wenn du mir schreibst, werde ich bestimmt nicht  sechs Monate und auch nicht sechs Wochen mit der Antwort warten. (…) Um grande e sempre grato abraço. José Sara­mago (José Saramago, 2. April 2006, Lanzarote).

Es war José Saramago immer peinlich, wenn seine Antwort Monate brauchte, obwohl er stets gute Gründe dafür hatte. Auf meinen Brief vom 17. September 2009 konnte es aber keine Antwort mehr geben.

Jetzt ist es an mir, lieber José, mich für meine Irrtümer und Versäumnisse tausendfach zu entschuldigen. Setzen wir uns auf die Bank am Alto de Santa Catarina und schauen auf die andere Seite, até sempre!

Anmerkungen:
1 »Erinnerungen« ist eine für den Portugal Report überarbeitete Version meines Beitrags «Algumas Memórias», der in der Übersetzung von Fernando Silvestre in Esteiros, Nr. 24 /2022 erschienen ist. Esteiros ist ein Bulletin der Regionalorganisation Lissabon der PCP, Abteilung Literarische Kultur / Intellektueller Sektor.

2 O Ano da Morte de Ricardo Reis (Das Todesjahr des Ricardo Reis, Übersetzung Rainer Bettermann)

3 Saramago benutzte das Wort ansiedade.

4 Eine Zeit ohne Tod, Übersetzung Marianne Gareis

1 Kommentare

  1. Lonha Heilmair

    Ein schöner Artikel!
    Mögen beide in uns fortleben, José Saramago und das “kleine deutsche Land”!
    Dem Frieden die Freiheit, einer gerechten Gesellschaft die Zukunft!

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